Nicht wortwörtlich, sondern vom Wort zum Sinn

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Mouhanad Khorchide, Islamwissenschafter und Imam in Wien, plädiert für eine zeitgenössische Lesart des Koran. Eines der (Vor-)Urteile über den Islam lautet: Diese Religion sei noch nicht in der Moderne angekommen und habe die Aufklärung noch "vor sich". Das vorliegende Dossier versucht, Spuren zu einer differenzierenden Auseinandersetzung bei diesem Thema zu legen - abseits von gängiger Schwarz-Weiß-Malerei, angefangen bei einer auch im Heute verankerten Koran-Interpretation. Redaktion: Otto Friedrich

Im Jahr 627 ereignete sich ein bekannter Vorfall der islamischen Geschichte, der für die Menschen damals kaum von Bedeutung war, heute aber aktuell ist wie noch nie zuvor.

Der Prophet Muhammad befahl seinen Gefährten, nach Kurajza, in den Süden Medinas aufzubrechen und sich zu beeilen. Dies tat er mit den Worten: "Keiner von euch soll das Nachmittagsgebet außerhalb von Kurajza verrichten." Etwa 3000 Muslime bewegten sich Richtung Kurajza, jedoch ging die Sonne fast schon unter, noch bevor die meisten von Ihnen in Kurajza angekommen waren. Da das Nachmittagsgebet vor Sonnenuntergang vorgeschrieben ist und der Prophet selbst schon angekommen war, also nicht gefragt werden konnte, ergab sich für die langsameren Gefährten des Propheten die Frage: Soll das Nachmittagsgebet auf dem Weg - also noch außerhalb von Kurajza - gebetet oder besser aufgeschoben und später in Kurajza nachgeholt werden?

Die Gefährten des Propheten waren sich in dieser Frage nicht einig; manche beteten unterwegs, andere holten das Gebet später in Kurajza nach. Diejenigen, die das Gebet unterwegs verrichteten, hatten die Worte des Propheten, keiner solle das Nachmittagsgebet außerhalb Kurajzas verrichten, als Aufforderung verstanden, sich zu beeilen und noch vor Sonnenuntergang in Kurajza zu sein. Sie folgten dem Sinn der Aussage des Propheten und nicht dem Wortwörtlichen. Die anderen, die das Gebet erst in Kurajza verrichteten, fragten nicht nach dem Sinn der Aussage des Propheten, sondern nahmen diese wörtlich.

Heute stehen Musliminnen und Muslime vor einer ähnlichen Situation wie die Gefährten des Propheten damals; es stellt sich eine ähnliche Frage: Wie sollen sie mit dem heiligen Text, also mit dem Koran umgehen? Sollen sie den Text Wort für Wort oder sinngemäß verstehen? Soll der Text oder der Sinn hinter diesem im Vordergrund stehen?

Gebot außer Kraft gesetzt

Indem ein Teil der Gefährten des Propheten seine Aussage wörtlich genommen hatte, ohne nach dessen Sinn zu fragen, setzten sie ein wichtiges islamisches Gebot, das Gebet, kurzfristig außer Kraft. Nur so konnten sie dem wörtlichen Verständnis treu bleiben, jedoch ist der Sinn dabei verloren gegangen. Genau den gleichen Fehler machen Muslime heute, wenn sie auf einer wörtlichen Interpretation bestehen. Diese Lesart macht es unmöglich, den Koran in die heutige Gesellschaft zu integrieren; sie stellt Muslime vor die Wahl einer "anti-koranischen Modernisierung" oder einer "anti-modernen Korantreue".

Daher plädiere ich für eine hermeneutische Lesart des Korans, die eine Begegnung mit drei historischen Momenten erlaubt:

* Der Offenbarungskontext. Damit ist mehr gemeint als nur die Offenbarungsanlässe des Korans. Der Offenbarungskontext umfasst die gesamte historische Situation der arabischen Halbinsel im 7. Jahrhundert. Die historisch relevanten Ereignisse während der Offenbarungszeit wurden schon in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts ausführlich niedergeschrieben; so war Ibn Ishaq einer der ersten Geschichtsschreiber in der islamischen Geschichte. Aber schon in dieser Phase hatte das gesammelte Geschichtsmaterial kaum Eingang in die koranische Exegese gefunden. Große Historiker wie Ibn Ishaq, Alwaqidi oder Ibn Sa'ad wurden von vielen Theologen als Lügner oder als unauthentisch bezeichnet. Und so bestand schon zu Beginn der ersten koranischen Exegesen diese Kluft zwischen Geschichte und Überlieferung.

* Der Leserkontext, also die aktuelle historische Situation. Hier geht es um die Frage, welche Forderungen der jeweilige Kontext an den Islam stellt, und umgekehrt, welche Forderungen stellt der Islam an den jeweiligen Kontext? So haben etwa Muslime in Europa andere Bedürfnisse und Probleme als Muslime in Saudiarabien. Daher muss sich die islamische Theologie den Herausforderungen des jeweiligen Alltagslebens der Menschen stellen und nicht kontextunabhängige Vorgaben machen. Sie muss sich fragen, wie sie sich mitentwickeln kann. Um diese Forderung auch realisierbar zu machen, müssen einige Wissenschaften, wie Sozial-, Wirtschafts- und Politikwissenschaften, in die Ausbildung von Theolog/inn/en integriert werden. Diese Wissenschaften sollen die Brücke zur Lebenswelt der Menschen bauen.

* Die historische Distanz zwischen beiden Kontexten. Eine Begegnung mit dieser historischen Distanz bedeutet eine Begegnung mit sich selbst, aber auch mit den Menschheitserfahrungen insgesamt. Denn die heutigen Muslime sind durch diese Distanz und durch die Horizontverschmelzung mit allen Erfahrungen, denen Muslime bis jetzt begegnet sind, geprägt.

Diese drei historischen Momente bilden den Rahmen einer koranischen Hermeneutik.

Eine zeitbezogene Lesart

Der islamische Horizont ist wiederum durch die Macht des Textes, besser gesagt, durch die Macht der exegetischen Texte geprägt, und nur eine historische Lesart des Textes, die alle drei historischen Momente berücksichtigt, kann zu einer zeitbezogenen Lesart des Korans führen.

Wie kann nun eine koranische Hermeneutik, die diese historischen Momente berücksichtigt, aussehen? Als Beispiel dafür soll eine Koranaussage dienen, die für viele Diskussionen sorgt: "Und wenn ihr annehmt, dass eure Frauen einen Vertrauensbruch begehen, besprecht euch mit ihnen und zieht euch aus dem Intimbereich zurück (meidet Intimitäten) und schlagt sie" (Sure 4, Vers 34).

Eine wörtliche Interpretation dieser Stelle begründet und legitimiert das Schlagen von Frauen koranisch. Viele Reformisten, die die historische Dimension der Offenbarung außer Acht lassen, versuchen durch Wortspielerei, diesen Vers an moderne Werte anzupassen. So heißt es dann, mit Schlagen sei nur ein kleiner Klaps oder etwa die Scheidung gemeint.

Durch solche Wortspielereien kann man den Koran letztlich alles und somit nichts sagen lassen.

Eine hermeneutische Koranlesart, die die historische Dimension integriert, vollzieht sich in folgenden drei Stufen:

* Die Analyse des Zusammenhangs zwischen Text und Offenbarungskontext soll Aufschluss über die Intention des Verfassers geben, also der Frage nachgehen: Was wollte Gott eigentlich von den Menschen damals, als er zu ihnen sprach? Berücksichtigt man da den historischen Kontext - Frauen wurden damals bei geringstem Verdacht ermordet bzw. verprügelt - und fragt sich, was Gott den damaligen Menschen sagen wollte, dann lautet die Antwort: Ermordet bzw. verprügelt eure Frauen nicht, sondern redet mit ihnen, meidet Intimitäten unter euch und schlagt sie erst, wenn dies alles nicht zu einer Lösung geführt hat.

* Im zweiten Schritt soll durch die Beantwortung folgender Frage ein Prinzip abstrahiert werden: Was will Gott den Menschen damit sagen? In diskutierten Beispiel ist es das Prinzip, bei Ehestreitereien den bestmöglichen rationalen Mediationsweg jenseits von Gewalt und Erniedrigung von Frauen zu finden.

* Schließlich soll folgende Frage beantwortet werden: Wie kann dieses abstrahierte Prinzip - also nicht das Wortwörtliche - in den heutigen Kontext, also ins Hier und Jetzt übertragen und umgesetzt werden? Erkenntnisse des Leserkontextes geben dabei Aufschluss, wie dies optimal geschehen kann. Das würde heute in Österreich, wo es Eheberatungsstellen und Psychologen gibt, bedeuten, im Falle von ernsthaften Eheproblemen, Gebrauch von diesen Institutionen als Mediationsmöglichkeit zu machen. Gewalt kommt nicht mehr in Frage. Der Leserkontext ist allerdings "nicht vom Himmel gefallen", er ist vielmehr historisch mit der Menschheitserfahrung gewachsen.

Damit Muslime den Koran wieder in ihre Geschichte integrieren, müssen sie zuerst die Bereitschaft für eine kritische Auseinandersetzung haben - mit der eigenen, islamischen Geschichte, der eigenen Gegenwart und mit den Erfahrungen der Menschen, egal welcher Religion oder Weltanschauung sie angehören.

Der Autor ist Islamwissenschafter und Soziologe an der Universität Wien sowie Imam in Wien-Ottakring.

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