Niemandsland beim 4. Tor

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In der jüdischen Abteilung des Wiener Zentralfriedhofs gibt es auch christliche Gräber: 1941 bis 1945 wurden auch Christenjüdischer Abstammung dort begraben - Menschen, die noch im Tod zwischen allen Stühlen sitzen.

Die Tramway fährt so schnell daran vorbei, als hätte sie ein schlechtes Gewissen, und verschwindet rot und glänzend im Dunst der Ebene. So bleibt denjenigen, die es suchen, keine andere Wahl, als beim dritten Tor schon auszusteigen und mit schnellen Schritten die kleine Mauer entlang zu gehen, verfolgt von den neugierigen Blicken der Menschen, die vergessen haben, dass es ein viertes gibt. Nur wenige suchen es! Wohin führt das vierte Tor? - fragt die Schriftstellerin Ilse Aichinger im Herbst 1945 in der Erzählung "Das vierte Tor".

Das vierte Tor des Zentralfriedhofs führt in die jüdische Abteilung des Wiener Zentralfriedhofs. Heute befindet sich vor dem Tor zwar eine Straßenbahnhaltestelle. Doch sind es nach wie vor nur wenige Menschen, die durch die dunklen Baumalleen an den schwarzglänzenden Gräbern vorbeigehen und nach links abbiegen: zur Gruppe 18 K. Dort - und überall auf dem Friedhof verstreut - liegen sie: 830 Tote, über die Hälfte davon katholisch, mehr als 170 konfessionslos und etwa genauso viel evangelisch, 14 altkatholisch, zwei griechisch-orthodox und eine griechisch-katholisch. Wohl gemerkt: Auf dem jüdischen Friedhof. Nach den Nürnberger Rassegesetzen galten sie nämlich als Juden und mussten auf Anordnung des NS-Regimes ab Oktober 1941 auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt werden.

Kreuz und Davidstern

Über ihre Gräber, teils eingesunken, teil umgefallen, hat der Efeu das Regiment übernommen. Seine grünen Blätter ringeln sich um die verwitterten Inschriften. "Mich nahm deine Rechte in Schutz, o Herr", ist zu entziffern, oder: "Wenn Liebe könnte Wunder tun und Tränen Tote wecken, so würde dich bestimmt nicht hier die kühle Erde decken." Im Sommer hört man nichts als Grillenzirpen und den Wind, der über die Fläche streicht.

Ab und zu huschen kleine Eidechsen über die warmen Steinplatten. Im Winter sind viele Gräber unsichtbar, versunken in Schnee. Auf einigen findet sich das christliche Kreuz und der jüdische Davidstern. Welche Bezeichnung ist für diese Toten angemessen? Christen? Juden? "Es wird immer sehr umständlich, wenn ich es genau sagen will", sagt die Historikerin Philomena Leiter, die sich seit Jahren mit der Erforschung dieser Gräber befasst. Und ihr Doktorvater Gerald Stourzh, emeritierter Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Wien, ergänzt: "Die korrekte Bezeichnung ist: Gräber von Personen, die der jüdischen Glaubensgemeinschaft angehörten, überwiegend christlich getauft waren, den NS-Rassegesetzen gemäß jedoch als Juden galten."

Ein langer Satz, der das Problem im Kern enthält: Diese Toten gehören nirgendwo dazu, sie liegen im Niemandsland der Religionen. Viele von ihnen waren schon um die Jahrhundertwende konvertiert, um einen nichtjüdischen Partner heiraten zu können. Andere hatten schon christliche Eltern und Großeltern. Manche sind auch zum Christentum übergetreten, um den Nazis zu entkommen. Vergebens.

Nur Stadt Wien zahlte nicht

Dass sie dort liegen, ist bereits Mitte der neunziger Jahre bekannt geworden. Gerald Stourzh hatte von einem befreundeten Historiker von den Gräbern erfahren und die Öffentlichkeit informiert. Mit wenig Erfolg. Wen interessieren schon einige hundert Menschen, die noch im Tod "zwischen allen Stühlen sitzen", wie Stourzh es ausdrückt? Der Professor und seine Schülerin ließen sich dennoch nicht beirren: Mit dem Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit als offiziellem Träger des Projekts machten sie sich ans Werk. Entwarfen einen Gedenkstein und ließen Grabsteine wieder aufrichten. Luden Prominente ein und hofften auf Spenden für ihre Restaurierungsarbeiten. Die trafen auch ein: Die Kirchen spendeten, der Nationalfonds der Republik Österreich spendete, Kardinal König spendete als Privatperson.

Nur die Stadt Wien hat sich bisher nicht an den 45.000 Euro für die Restaurierung beteiligt. Finanzstadtrat Rieder war bis Redaktionsschluss für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Dem Restitutionsbeauftragten Kurt Scholz ist die Sache aber ein "glühendes Herzensanliegen". Die Mediensprecherin des Kulturstadtrates, Saskia Schwaiger, begrüßt die Initiative und verspricht Unterstützung und baldige Erledigung. Fazit: Schöne Worte, aber bisher kein Geld.

Der Israelitischen Kultusgemeinde ist das Restaurierungsprojekt grundsätzlich sehr willkommen, doch betont ihr Amtsdirektor Avshalom Hodik: " Die Finanzierung dieses Projekts ist Sache der Stadt. Es ist zwar schön, dass Kardinal König spendet, doch eigentlich ist das eine öffentliche Angelegenheit!"

Die Israelitische Kultusgemeinde hat von den Gräbern mit dem Kreuz auf ihrem Friedhof schon immer gewusst. Doch was sind einige hundert Grabsteine von Christen und Konfessionslosen angesichts der 5.000 jüdischen Gräber ohne Grabsteine? "Wir haben nicht genug Geld, um unsere Gräber zu pflegen", sagt Hodik. Die öffentlichen Gelder der Stadt Wien reichen bei weitem nicht aus. Die Frage, ob die IKG jemals an eine Umbettung der Toten mit dem christlichen Taufschein gedacht habe, verneint Hodik ganz entschieden. "Diese Menschen haben das Schicksal der Juden geteilt, es sind Holocaust-Opfer".

Deren Schicksal teilen sie bis heute. Denn das kleine Restaurierungsprojekt des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit spielt sich vor dem Hintergrund des großen Washingtoner Abkommens ab. Dieses Abkommen aus dem Jahr 2001 zwischen Österreich und Vertretern jüdischer Organisationen sieht zusätzliche Wiedergutmachungsleistungen der Republik Österreich vor, wenn einzelne jüdische Vertreter ihre Klagen gegen die Republik zurücknehmen. Erst wenn Rechtsfriede eingetreten ist, werden weitere Geldmittel unter anderem zur Pflege der jüdischen Friedhöfe bereitgestellt. Derzeit ist dieses Abkommen aber noch blockiert, was einer der Hauptgründe für die Verzögerung bei der Finanzierung sein dürfte. Die konfessionslosen und christlichen Toten auf dem jüdischen Friedhof gehören dazu und doch nicht dazu.

Hitlers Postkartenverkäufer

Ilse Aichingers Frage in ihrer Erzählung "Das vierte Tor" gilt für sie in ganz besonderem Maß: Sind denn die Toten hier wirklich ganz allein geblieben? Leichter, freundlicher Wind zittert über sie hin, kleine Insekten taumeln die Sträucher entlang, weiße Schmetterlinge gaukeln von den Feldern herüber. Sind denn die Toten hier wirklich verlassen?"

Philomena Leiter hat die Lebensgeschichte einiger der Begrabenen rekonstruieren können - aus Beerdigungsbüchern, aus der Friedhofskartei und aus dem Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes. Da ist die Geschichte von Ilse Brüll, deren Eltern sie in einem holländischen christlichen Kinderheim unterbrachten, um sie vor den Nazis zu retten. Vergeblich. Ilse wurde verraten und im KZ umgebracht. Ihre Eltern überlebten Theresienstadt. Ilses Vater, Rudolf Brüll, wurde später der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde in Innsbruck.

Da ist die Geschichte des Fabrikanten Jakob Altenberg, in dessen Rahmengeschäft im vierten Wiener Gemeindebezirk der junge Adolf Hitler seine selbstgemalten Postkarten verkaufte. Altenberg liegt in der Gruppe 18 K.

Selbstmorde, Herbst 1941

Da gibt es die vielen, die sich in ihrer Verzweiflung das Leben genommen haben: "Tod durch Leuchtgasvergiftung, Tod durch Fenstersturz, Tod durch Erhängen ...". Die Friedhofslisten sind lang: In Gruppe 20 E liegen fast nur Personen, die im Herbst 1941 nach Selbstmorden begraben wurden. Und dann gibt es noch diejenigen, die buchstäblich an gebrochenem Herzen starben, Junge und Alte.

"Für mich ist es ein Gedächtnisort, wo die Präsenz des Dritten Reiches wie nirgendwo in Wien spürbar wird. Die meisten Gedenksteine sind mitten in der lebendigen Stadt. Da draußen aber, am Rande des jüdischen Friedhofs, ist die Verlassenheit eindrucksvoll", sagt Stourzh. "So armselig diese Menschen gelebt haben, so armselig sind sie auch gestorben."

Mittlerweile pflegt der Gärtner der Kultusgemeinde den Rasen, sind Thujen gepflanzt worden. Die Mitglieder des christlich-jüdischen Koordinierungsausschusses geben die Hoffnung auf Unterstützung nicht auf. Der einzige Ort, an dem einst jüdische Kinder spielen durften, soll ein Ort des würdigen Gedenkens werden.

Beim vierten Tor! Dort, wo die Welt seit langem unsichtbar und tröstend zugegen ist, dort, wo der Jasmin sehnsüchtig blühte und sehnsüchtige Kinder den Traum vom Frieden träumten, dort, wo die Tramway nicht einmal eine kleine, einfache Endstation machen wollte, dort ist die erste Station der Freiheit. (Ilse Aichinger)

Spenden für das Projekt können aufs Konto des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit eingezahlt werden: Kto. Nr. 1-07.402.431 bei der Evangelischen Kreditgenossenschaft (BLZ 31 800).

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