Nomadin und Mystikerin

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Zum 100. Geburtstag von Madeleine Delbrêl (1904-1964).

Der Fromme der Zukunft wird ein Konvertit und ein Nomade sein. So könnte man Karl Rahners berühmtes Programmwort aus 1966 vom Christ der Zukunft, der ein Mystiker sein werde, heute fortschreiben. Christsein ist längst nicht mehr selbstverständlich, Christbleiben auch nicht.

Es braucht bewusste Entscheidungen - nicht nur für einen Höhepunkt oder eine Sternstunde, sondern in den Rhythmen einer ganzen Lebensgeschichte. Was die französische Religionssoziologin Danièle Hervieu-Léger "Nomade" nennt, meint Mobilität, lokale und mentale Beweglichkeit.

Die Figur und Mentalität des Pilgers wird aktuell. Denn die klassischen religiösen Milieus haben sich aufgelöst und sind im Übergang. An Madeleine Delbrêl, vor 100 Jahren in Mussidan in der Dordogne geboren, vor 40 Jahren in Paris gestorben, lässt sich studieren, wie Christwerden heutzutage "geht".

"Wir Nachbarn der Kommunisten" - so heißt ihr wohl berühmtestes Buch. Die darin gesammelten Vorträge bilden so etwas wie ihre Lebenssumme. Inmitten einer militant-atheistischen Umgebung versuchte sie, das Evangelium zu entdecken und zu bezeugen.

Konversion und Glück

In jungen Jahren war Madeleine Delbrêl entschieden atheistisch orientiert und geistig ganz im liberalen Mainstream beheimatet. Als 20-Jährige entschied sie sich bewusst für das Christentum. Aufgrund von Lektüre-Erfahrungen und Begegnungen fand die wahrheitshungrige Frau, die zwei Jahre später für ihren ersten Gedichtband den renommierten Lyrikpreis "Sully Prudehomme" erhielt, endlich die gesuchte Wahrheit.

"Wenn ich aufrichtig sein wollte, durfte Gott, der nicht mehr strikt unmöglich war, auch sicher nicht als inexistent behandelt werden. Ich wählte deshalb, was mir am besten meiner veränderten Perspektive zu entsprechen schien: Ich entschloss mich zu beten... Dann habe ich, betend und nachdenkend, Gott gefunden, aber indem ich betete, habe ich geglaubt, daß Gott mich fand und daß er lebendige Wirklichkeit ist und man ihn lieben kann, wie man eine Person liebt." Das ist das Schlüsselerlebnis - und zeitlebens wird sie diesen Gottesfund als überwältigendes Geschenk begreifen.

Die Mitarbeit in der katholischen Pfadfinderschaft ließ die Bekehrung konkret werden. Fasziniert von der Spiritualität des Karmel und eines Charles de Foucaulds, entschied sich Madeleine Delbrêl für das Studium der Sozialarbeit, um in die Mission zu gehen.

Das aber hieß nicht Afrika oder Asien, sondern Ivry. Es war die Bannmeile und das Armenhaus von Paris, das Ballungszentrum proletarischen Elends. Mehr als 30 Jahre lebte und wirkte sie als Sozialarbeiterin in einer kleinen Gemeinschaft Gleichgesinnter. Nach ihrem schmerzhaft frühen Tod sagte einer der führenden militanten Marxisten, mit denen sie wie selbstverständlich zusammenarbeitete: "Ich glaube auch jetzt nicht an Gott, aber wenn es ihn gibt, trägt er die Züge von Madeleine."

Spiritualität mit Zukunft

Seit der Trennung von Staat und Kirche 1905 begannen in Frankreich jene Prozesse christlicher Selbstfindung, die jetzt auch hierzulande zu bewältigen sind. Kirchliche Privilegien und christliche Selbstverständlichkeiten zersetzen sich, der Weg in die Diaspora ist spürbar.

In den Jahren von Madeleine Delbrêls Lebenswende wurden Jeanne d'Arc (1920) und Thérèse von Lisieux (1925) heilig gesprochen - deutliche Zeichen kirchlicher Selbstfindung. Die Christliche Arbeiterjugend wurde gegründet, Paul Claudel schrieb den "Seidenen Schuh". Theologen wie Yves Congar, Henri de Lubac, Chenu oder Kardinal Suhard stehen für diese Wegbereitung des 2. Vatikanischen Konzils.

Wichtig wurde vor allem die "Mission de France" - ein Aufbau französischer Christen - bis hin zur Arbeiterpriesterbewegung. Mitten darin wurde Madeleine Delbrêl zur gefragten Persönlichkeit. Ihre Vorträge, Gedichtgebete und Texte sind bis heute Fundgruben einer zeitgemäßen christlichen Spiritualität mit Zukunft.

Der hinterlegte Schatz

Selbstkritisch wandte sich Madeleine Delbrêl an die Adresse der eigenen, verbürgerlichten Kirche. "Wir verkünden keine gute Nachricht, weil das Evangelium keine Neuigkeit mehr für uns ist, wir sind daran gewöhnt, es ist für uns eine alte Neuigkeit geworden. Der lebendige Gott ist kein ungeheures, umwerfendes Glück mehr... Wir verteidigen Gott wie unser Eigentum, wir verkünden ihn nicht wie das Leben alles (!) Lebens, wie den unmittelbaren Nächsten all (!) dessen, was lebt."

Für Madeleine Delbrêl typisch ist diese Kraft zur Zeitdiagnose und zum konkreten Engagement, bezeichnend ihr evangelisatorischer Schwung "für euch und für alle (!)". Keinerlei Gejammer über die vermeintlich bösen Zeiten oder gottlosen Menschen. Vielmehr die umwerfende Gewissheit, einen Schatz empfangen zu haben.

Seite an Seite mit Atheisten und Marxisten setzte sie sich für mehr soziale Gerechtigkeit ein, arbeitete gewerkschaftlich und politisch mit, half wo sie konnte - bis hin zu einer Neugründung ihrer Gemeinschaft in Afrika. Missionarisches Christsein - heute mit Recht vielfach beschworen - war für sie nicht zuerst Lehre und Programm, sondern gelebte Praxis: solidarisch und freigebend, nicht moralisierend oder pädagogisch, nicht fordernd, sondern einladend in der Gewissheit, etwas bezeugen zu dürfen, was für sich selbst spricht und ohne bessere Alternative ist. Daraus erwuchs ihr authentisch christliches Selbst- und Sendungsbewusstsein: "Wir kommen nicht, um großmütig etwas mitzuteilen, was uns gehört, nämlich Gott. Wir treten nicht wie Gerechte unter die Sünder, wie Leute, die ein Diplom erlangt haben, unter Ungebildete, wir kommen, um von einem gemeinsamen Vater zu reden, den die einen kennen, die anderen nicht, wie solche, denen vergeben worden ist, nicht wie Unschuldige, wie solche, die das Glück (!) hatten, zum Glauben gerufen zu werden, ihn zu empfangen - aber nicht als Eigenbesitz, sondern als etwas, das in uns für die Welt hinterlegt wird: daraus ergibt sich eine ganze Lebenshaltung."

"Solitaire" und "solidaire"

Das Grundgesetz christlicher Existenz hatte Madeleine Delbrêl wortspielerisch auf den Punkt: solitaire und solidaire. Das war die Spannung ihres Lebens und Glaubens. Soll man es mit "einsam" und "gemeinsam" übersetzen? Gemeint ist vor allem dies: Anbetung, die Intimität der Gottesbeziehung. "Die Einsamkeit, o mein Gott, besteht nicht darin, dass wir allein sind, sondern darin, dass Du da bist, denn vor Dir sinkt alles im Tod, oder alles wird Du" - heißt es in einem ihrer kostbaren Gedichtgebete. Zur Nomaden- und Pilgerexistenz des konvertierten Christen gehört diese innere, monastische Gottentschiedenheit. Einsamkeit ist aber auch die Figur christlicher Erfahrung in einer atheistischen Welt. Mit dem Evangelium "nimmt man eine Einsamkeit in Kauf, die keiner anderen gleicht; man ist ganz und gar allein und ganz und gar solidarisch. Man konvertiert', man kehrt um, und das ist schon nicht so leicht. Aber man kehrt um im Namen aller" - lebenslang.

Daraus erwächst Solidarität. Wer in Gott eintaucht, taucht beim Nächsten, beim Ärmsten auf. Je radikaler in Gott, desto entschiedener beim Menschen und in der Welt. "Sich inkarnieren" (lassen), also passiv und aktiv Anteil haben an der Suchbewegung Gottes in seiner Welt und unter den Menschen - das ist entscheidend. "Lernen wir, dass es nur eine einzige Liebe gibt: Wer Gott umarmt, findet in seinen Armen die Welt; wer in seinem Herzen das Gewicht Gottes aufnimmt, empfängt auch das Gewicht der Welt." Nichts von Weltflucht, keine Verklärung vergangener oder kommender Zeiten, nichts von Verteufelung der Gegenwart. Hier spricht eine liebende, eine umarmende Frau.

"Man muss sich der beiden dunklen Räume bewusst geworden sein, zwischen denen unser Leben sich abspielt: unergründliches Dunkel Gottes und Finsternis des Menschen. Dann kann man sich mit Leib und Seele dem Evangelium verschreiben, kann durch unser doppeltes Nichts hindurch, unsere Kreatürlichkeit und unser Sündersein wahrnehmen." Madeleine Delbrêls Spiritualität ist den konkreten Lebensverhältnissen abgerungen. Ihre Meditationen und Gebete sind von oft poetischer Alltäglichkeit, durchaus voller Humor (wie etwa in ihrem Comic "Der kleine Mönch"), aber auch mit dem ganzen Ernst förmlich absurder, ungerechter Verhältnisse. Christlich glauben ist ein "Gewaltzustand", eine auch harte Auseinandersetzung - ganz im Unterschied zu manchem, was heute als "Spiritualität" auf dem Markt ist.

Diese leuchtend-erleuchtete Nüchternheit in Delbrêls Schriften ergibt sich aus einer Mystik der Tat. Konkret wurde das zum Beispiel in der klaren Ablehnung des Atheismus ihrer marxistischen Weggefährten bei gleichzeitiger Solidarität mit ihnen im sozialen und politischen Engagement. Konkret wurde das auch in der kirchlichen Realität, am härtesten wohl in der so genannten Arbeiterpriester-Krise - jenem missionarischen Versuch französischer Christen, aus der bürgerlichen Gefangenschaft der Kirche herauszukommen und glaubwürdig im Proletariat und mit ihm das Evangelium zu leben. Madeleine Delbrêl war wie zerrissen. 1952 fuhr sie in einer Blitzreise nach Rom, "nur" um 24 Stunden am Petrusgrab für die Heimatkirche zu beten. Das römische Verbot der Arbeiterpriester schlug tiefe Wunden.

Kirche: schmerzliche Geburt

Tiefste Kirchenbindung geht bei Madeleine Delbrêl Hand in Hand mit deutlicher Kritik an realen Verhältnissen - wie bei so vielen anderen Mystikerinnen. "Mir scheint, die Kirche ist zu allen Zeiten immer auf dieseWeise geboren worden. Immer waren es die gleichen Kämpfe, die die Heiligen zermalmt haben. Sie waren zur Fruchtbarkeit berufen; wenn wir es geschehen ließen, dass das, was in ihnen gewachsen war, aus ihnen arm und klein durch grausame, blutige, aber im Gehorsam organischer Stöße hervorkam, dann ist Christus-Kirche durch sie aufs Neue zur Welt gekommen."

Nicht zufällig wählte die gottergriffene Frau den Vorgang der schmerzhaften Geburt, um das Wachstum des authentisch Kirchlichen zu benennen. Seit alters liegt in christlicher Mystik das Wissen um die "Gottesgeburt" und um den "mystischen Tod" eng beieinander, karfreitaglich und österlich. Der Glaube in dieser Welt jenseits von Eden ist ein "dunkles Licht", solitaire und solidaire.

Der Autor, Ordinariatsrat für Kultur, Kirche und Wissenschaft im Bistum Limburg, ist Autor zahlreicher Bücher im Themenbereich Spiritualität.

BUCHTIPPS:

* DER KLEINE MÖNCH

Von Madeleine Delbrêl. Zeichnungen von Thomas Plassmann. Verlag Herder, Freiburg 2004, 46 Seiten, geb., e 5,20

* GOTT EINEN ORT SICHERN. Texte-Gedichte-Gebete. Von Madeleine Delbrêl. Hg. Annette Schleinzer. Schwabenverlag, Ostfildern 2002, 159 S., geb. e 13,50

* MADELEINE DELBRÊL. Die andere Heilige. Von Katja Boehme. Verlag Herder, Freiburg 2004, 128 Seiten, 25 SW-Abb., kt. e 15,40

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