NS-Zeit nicht zudecken

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14.000 Seiten der Historikerkommission in Österreich und die Archivöffnung im Vatikan zeigen einmal mehr: Einen Schlussstrich unters Geschichtskapitel Drittes Reich kann es nicht geben.

Vier Jahre habe "eine Historikerkommission" versucht, "das dunkelste Kapitel unserer Geschichte zu durchleuchten": So klingt es, wenn Dieter Kindermann in der Kronen Zeitung über den Schlussbericht der - nicht "einer"! - Historikerkommission schreibt. Österreichs Kleinformat enthält seinen Lesern auch vor, dass 160 Historiker am größten Geschichtsprojekt der Republik arbeiteten, und dass die Kommissionsberichte auf 14.000 Seiten auflisten, wie es zur Arisierung jüdischen Eigentums und zur Enteignung anderer NS-Opfergruppen nach 1938 kam, und wie halbherzig die Zweite Republik Wiedergutmachung leistete. Nicht einmal den vollständigen Namen des Vorsitzenden der Historikerkommission - Verwaltungsgerichts-Präsident Clemens Jabloner - gab die Krone ihrem Publikum preis: Besagter Kindermann-Artikel beweist einmal mehr, dass sich das Blatt bestenfalls halbherzig mit dem epochalen Aufarbeitungsprojekt der Historikerkommission beschäftigt.

Man muss aber, Gott sei Dank, sich nicht aufs Kleinformat verlassen und kann auf die Ergebnisse der Historiker im Internet zugreifen (www.historikerkommission.gv.at): Wer also will, kann sich über unzählige Details der größten Raubgeschichte Österreichs informieren - nicht nur über die "Arisierungen", den Diebstahl jüdischen Eigentums, sondern auch über die staatlich geförderten Verbrechen an anderen Gruppen: Roma und Sinti, Homosexuelle, Euthanasie-Opfer, katholische Stifte...

Kommissionsvorsitzender Jabloner charakterisierte die untersuchten Vorgänge zwischen 1938 und 1945 als "organisierte Kriminalität": Die Raubzüge seien nicht nur eine staatlich-bürokratische Maßnahme gewesen, sondern gerade viele Österreicher seien an den Diebstählen persönlich beteiligt gewesen. Auch die Restitutionen nach 1945, so Jabloner, ergäben ein "komplexes und zwiespältiges Bild".

Der Brief von Edith Stein

Mit dem Schlussbericht der Historikerkommission in Wien fiel zeitlich ein anderes, ebenfalls in der öffentlichen Kontroverse thematisiertes Ereignis in Rom zusammen: Nach jahrelangen Forderungen vor allem von Zeithistorikern öffnete der Vatikan die Archive aus der Zeit des Pontifikats von Pius XI. (1922 bis 1939). Als ob es eines Beweises bedurft hätte, dass in den geheimen Kammern der päpstlichen Paläste Brisantes ruht, wurde ein Brief Edith Steins vom April 1933 bekannt: Die vom Judentum konvertierte Philosophin und spätere Karmelitin, die 1942 in Auschwitz ermordet und 1998 als Märtyrerin heilig gesprochen wurde, beschwört darin Pius XI., seine Stimme gegen die Gräueltaten des NS-Regimes zu erheben. Schon 1933 schreibt Stein, dass Verantwortung auch auf die falle, die zu den NS-Verbrechen schweigen (Wortlaut des Briefes: www.merkur.de/aktuell/cw/ ki_030802. html).

Im Nu ist die Debatte über das Schweigen der katholischen Kirche zur Judenverfolgung wieder auf die Tagesordnung gekommen, dabei sind die Archive des Pontifikats Pius XII., in dessen Zeit die Schoa fiel, noch gar nicht zugänglich. Der katholischen Kirche und dem Papsttum steht also noch eine weitere, lange Diskussion über deren Haltung im und zum Dritten Reich bevor.

Der Bericht der Historiker in Wien und die Archiv-Öffnung in Rom sind weit mehr als ein zufälliger zeitlicher Einklang: Denn in beiden Fällen handelt es sich um reichlich späte, aber notwendige Ausleuchtungen immer noch aufzuarbeitender Geschichte.

Hinter beiden Ereignissen steht einmal mehr die Frage, die für die Nachkommen der Täter, Schweiger und Mitläufer jener Zeit nach wie vor quälend ist: Wie lange soll das schmerzliche Erinnern noch weitergehen?

Jetzt liegen in Wien doch die 14.000 Seiten vor, die das, was heute über die NS-Raubzüge in Erfahrung zu bringen ist, dokumentieren. Und die Mahnmale (wie am Wiener Judenplatz) sind längst aufgestellt, auch die Gedenkreden ertönen hierzulande bei jeder passenden Gelegenheit. Und hat sich Papst Johannes Paul II. nicht ebenfalls klar zu Schoa und Antijudaismus geäußert, sich auch für die Sünden der "Söhne und Töchter der Kirche" entschuldigt?

Was in Wien wie in Rom dieser Tage ans Licht kam, zeigt erneut, dass es den Schlussstrich unter das Kapitel Drittes Reich weder hier noch dort geben kann: Die 14.000 Seiten in Wien liegen vor, aber sie müssen weitererzählt werden - als Geschichten vom Rauben und Beraubt-Werden, als Bild einer Zeit, die sich nie wiederholen darf. Und auch im Vatikan schlummern - so darf beinahe mit Gewissheit vermutet werden - noch Dokumente, die für die öffentliche Diskussion kirchlichen Verhaltens zur NS-Zeit unerlässlich sind. (Man hofft dringlich, dass diese Diskussion noch vor einer Seligsprechung Pius XII. ehrlich geführt wird!)

Einmal mehr erweist sich: Der Arm der Geschichte reicht weit in die Gegenwart hinein. Er verlangt von den Nachgeborenen noch einen langen Atem.

otto.friedrich@furche.at

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