Nüchtern und gelassen

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Fastenzeit ist Krisenzeit. Da der Mensch gewissermaßen permanent in der Krise lebt, ist auch ein habituelles "Fasten" angebracht.

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Fastenzeit ist Krisenzeit. Da der Mensch gewissermaßen permanent in der Krise lebt, ist auch ein habituelles "Fasten" angebracht.

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Wer sich heute in zeitdiagnostischen Analysen welcher Art auch immer versucht, kommt am Wort "Krise" nicht vorbei. Auch vom Guten Leben kann man wohl nicht ohne Bezugnahme darauf sprechen. Dabei geht es nicht nur um die Krise eines bestimmten Segments der Wirklichkeit -z. B. der Wirtschaft, der Politik, der Medien -, sondern um ein umfassendes Phänomen, das längst auch in die Ritzen und Fugen der persönlichen Lebensrealitäten eingedrungen zu sein scheint.

Vielleicht empfinden wir das aber auch nur deshalb so stark, weil das in den letzten Jahrzehnten vorherrschende Lebensgefühl einer satt und selbstzufrieden gewordenen Wohlstands-und Konsumgesellschaft eine grundlegende Tatsache überlagert hat: dass die Krise zum Menschen gehört, dass der Mensch ein Wesen ist, das sich quasi existenziell in der Krise befindet. Die gegenwärtige Krise ließe sich dann als spezifische Ausprägung der für den Menschen konstitutiven Krise unter den Bedingungen von höchst elaborierter wie verwundbarer Technologie und Ökonomie lesen. Der Mensch ist das krisenanfällige Wesen -und zwar letztlich deshalb, weil er in der einen großen Krise seines Lebens als unwiederbringlicher Zeitspanne der Entscheidung und Unterscheidung steht.

Wenn man sich dieser Einsicht nicht verschließt, wird man zugeben müssen: Das kann nicht auf Dauer gut gehen. Denn wenn der Mensch solcherart ständig an der Kippe steht, muss er zwangsläufig immer wieder die Erfahrung machen, dass etwas in seinem Leben "kippt". Das aber gilt dann freilich nicht nur für den einzelnen, sondern auch für die Gesellschaft als ganze und das mit ihr jeweils verbundene politisch-wirtschaftliche System. In so einer Krisensituation werden wir gewissermaßen auf uns selbst zurückgeworfen, auf unser Innerstes, und lernen -wenn wir willens und fähig dazu sind -Wesentliches von Unwesentlichem, die Sirenen des Zeitgeistes von den geistvollen Stimmen zu unterscheiden. Die eigenen Kriterien werden in der Krise der Kritik unterzogen (die drei Begriffe haben nicht von ungefähr den selben Wortstamm); Maßstäbe werden hinterfragt, Proportionen neu bestimmt, Gewichtungen anders verteilt.

umdenken und Kurs halten

Letztlich sind es immer konkrete Menschen, die -in ihrer existenziellen Krisenanfälligkeit -am Anfang einer Krise stehen; und daher kann auch nur von ihnen selbst der Weg aus der Krise beschritten werden. So wie die gegenwärtig uns in Atem haltende Krise ihren Ausgang nahm bei Politikern, die populär sein wollten, bei Notenbankern, die leichtfertig (willfährig?) handelten, und ganz allgemein bei Menschen, die maßund haltlos geworden waren, so wird ihre langfristige Überwindung in ebendiesen vielen einzelnen stattfinden -oder eben nicht. Keine noch so ausgetüftelte "Systemkorrektur" kann daran etwas ändern - weil das "System", zu Ende gedacht, immer wir selbst sind.

Die größte Gefahr einer jeden Krise besteht darin, dass die durch sie ausgelöste Panik und hektische Betriebsamkeit die Krisenspirale nur noch weiter dreht -das nennt man dann die Eigendynamik der Krise. Demgegenüber empfehlen sich zwei Tugenden, die auch der eben angebrochenen Fastenzeit durchaus angemessen sind: Nüchternheit und Gelassenheit. Gerade wenn sich alles rund um einen immer schneller dreht, vermeintlich fest gefügte Dinge wie Kartenhäuser zusammenbrechen, braucht es den langen Atem, dann lautet das Gebot der Stunde, auch wenn es paradox anmutet: Kurs halten! Gemeint ist nicht stur an Liebgewonnenem und Überkommenem festzuhalten, sondern jene Haltung, die im ersten Thessalonicherbrief angesprochen ist: "Prüft alles, und behaltet das Gute!"(5,21). Wer das Gute behalten, das Ziel nicht aus dem Blick verlieren will, der muss sich daran immer wieder neu orientieren. Das entspricht dem biblischen Aufruf zur metanoia, was nur unzureichend mit Umkehr übersetzt wird. Genauerhin geht es um ein Umdenken unter sich ständig verändernden Rahmenbedingungen.

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