paulo suess - © KNA/Rathke

Paulo Suess: Option für die Armen ist noch brandaktuell

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Paulo Suess, Theologe in Brasilien, über Befreiungstheologie, einen Bischof als Präsidenten und den Vormarsch der Evangelikalen in Lateinamerika.

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Paulo Suess, Theologe in Brasilien, über Befreiungstheologie, einen Bischof als Präsidenten und den Vormarsch der Evangelikalen in Lateinamerika.

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Die Evangelikalen sind in Lateinamerika auf dem Vormarsch. Gleichzeitig gelangen linke Katholiken - Ex-Bischof Fernando Lugo in Paraguay, Rafael Correa in Ecuador - an die Spitze von Staaten. Ein Gespräch mit dem aus Deutschland stammenden Theologen Paulo Suess, der in Brasilien lebt und wirkt.

DIE FURCHE: Herr Professor Suess, die Befreiungstheologie wurde in diesem Jahr 40 - Grund zum Feiern oder Anlass zu einer bitteren Bilanz?

Paulo Suess: Nein, Bitterkeit empfinde ich nicht. Ich habe kürzlich an einem theologischen Kongress in Medellín teilgenommen, wo 1968 in der Folge des Aufbruchs des II. Vatikanischen Konzils die Theologie der Befreiung geboren wurde. Es war damals der Beginn eines lateinamerikanischen Frühlings mit dem vorläufigen Ende einer Kirche in kolonialer Abhängigkeit. Die lateinamerikanische Kirche sollte eine Kirche der Armen und Ausgestoßenen sein - und sie stellt bis heute diesen Anspruch. Auch wenn die Theologie der Befreiung wie ein Läuten aus ferner Zeit klingt, so werden wir doch nicht aufhören, wie Don Quijote mit unseren theologischen Lanzen gegen die Mauern der Machthaber zu schlagen, in der Hoffnung, dass diese Mauern eines Tages einstürzen werden.

DIE FURCHE: Ist die Befreiungstheologie nicht mit Leuten wie Fernando Lugo, dem Ex-Bischof und neuen Präsidenten von Paraguay, oder Rafael Correa, dem Präsidenten Ecuadors, am Ziel politischer Einflussnahme für die Armen angekommen?

Suess: Die von der Befreiungstheologie eingeklagte "Option für die Armen" muss nicht notwendigerweise in konkrete Politik führen. Dort herrscht so viel Korruption, dass es fast unmöglich ist, "gute Politik" im Sinne der Armen zu betreiben. Präsident Lugo bewundere ich dennoch sehr. Es gehört viel Mut und Selbstlosigkeit dazu, sich aus der Sicherheit eines Bischofsstuhls hinein in eine so komplexe Situation wie die Politik Paraguays zu begeben. Gewinnen wird er den Kampf gegen die übermächtigen Gegner und verfilzten Eliten im Land vermutlich nicht, aber er kann ein Zeichen setzen.

DIE FURCHE: Findet eigentlich noch eine theologische Auseinandersetzung mit dem römischen Lehramt statt, oder haben sich die Grabenkämpfe mittlerweile beruhigt?

Suess: Ich erinnere nur an den Fall Jon Sobrino, der noch 2006 in einer Aufsehen erregenden Notifikation der Glaubenskongregation gemaßregelt worden ist. Was für Rom einen Zeitgewinn darstellt, da man so einen vermeintlich lästigen Theologen stillgestellt hat, ist in Wahrheit ein Zeitverlust für eine samaritanische Kirche wie unsere! Wir können aber nicht warten, bis Rom begreift, dass man sich dort mehr um die Verurteilung angeblicher Täter kümmert als um die Vermeidung von Leiden und Opfern.

Theologisch ist aber Gott sei Dank mittlerweile vieles sedimentiert: So ist die Rede von der "Option für die Armen" theologisches Allgemeingut geworden. Selbst Papst Benedikt XVI. hat sich 2007 bei seinem Besuch in Aparecida dazu bekannt, dass die Kirche Anwalt der Gerechtigkeit für die Armen sein muss. Dabei geht es freilich um parteiliche Anwaltschaft, nicht um eine vermeintliche Schiedsrichterposition, die über richtig und falsch entscheidet.

DIE FURCHE: Dennoch bleiben Roms theologische Vorbehalte ...

Suess: Ja, der Befreiungstheologie wird vor allem der Bruch mit der Tradition der Kirche nachgesagt. Das offene Bekenntnis zu dynamischen Suchbewegungen - auch in Hinblick auf die Frage, was Wahrheit sei, ein Leben für die konkreten Anderen, die Armen - das scheint bis heute das Konzept der "klassischen" Theologie durcheinanderzuwirbeln. Wir verweisen dann immer auf unsere zahlreichen Märtyrer und Glaubenszeugen wie etwa die Toten der Universität von El Salvador oder den ermordeten Erzbischof Oscar Romero. Das waren doch keine Geisterfahrer, die einen Strafzettel verdient haben! In Lateinamerika wurde die Kirche nicht auf den Kopf, sondern im Gegenteil vom Kopf auf die Füße gestellt.

DIE FURCHE: Heute klagen viele kirchliche Mitarbeiter, die in Lateinamerika tätig sind, über den enormen Zuwachs an evangelikalen Gruppierungen. Was macht deren Reiz aus?

Suess: Diese Entwicklung ist tatsächlich Besorgnis erregend, aber sie zeigt deutlich, was wir vielleicht in den letzten Jahren versäumt haben: So hat insbesondere der linke, stark politisierte Flügel der Befreiungstheologie einfach vergessen, dass zum Menschsein mehr gehört als Politik - es braucht auch Zeiten des Feierns, es braucht vorgelebte Werte, die Pflege der Familienstrukturen, Orte, an denen Emotionen zelebriert werden können. Das wurde in der Theologie der Befreiung oftmals zu abfällig bewertet und so das Verhältnis von Herz und Kopf aus dem Gleichgewicht gebracht. Die evangelikalen Gruppierungen hingegen bedienen genau diese Bedürfnisse.

DIE FURCHE: Unter Befreiungstheologen regieren dennoch Vorbehalte gegenüber den Evangelikalen.

Suess: Ja, weil sie über das Ziel hinausschießen und auf den falschen, den schnellen Trost, auf spirituelle Soforthilfe setzen, die bei Leuten natürlich immer besser ankommt als der lange Weg der Veränderung von gesellschaftlichen Strukturen. Zugleich treiben sie damit auch die Entpolitisierung voran: Gemeinden ziehen sich aus dem Kampf um Gerechtigkeit zurück und konzentrieren sich lieber wieder aufs geistliche Wohlergehen.

DIE FURCHE: Was sind dann anstehende Themen der Theologie?

Suess: Wir müssen das theologisch Selbstverständliche wie etwa die Rede von der "Option für die Armen" detaillierter und genauer fassen. Jeder schmückt sich mit diesem Begriff - und keiner weiß eigentlich, was er bedeutet. Aber auch die Rede von der "kulturell polyzentrischen Weltkirche" muss neu belebt werden: Die römische Kirche ist noch immer eine Kirche des Nordens, die theologische Identität der römischen Kirche wird noch immer vollends der abendländisch-europäischen Kultur zugeschlagen. Auch ist die römische Kirche weiterhin altsprachig - die Anderen, noch dazu die armen Anderen, stören noch immer das Uhrwerk der Kirche. Aber hier und da beginnt es doch bereits deutlich zu knirschen.

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