"Paulus will uns heute' nichts sagen"

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Wider ein "naives" Lesen der Bibel: Um die biblischen Texte zu verstehen, ist ein Grundwissen über die Umstände ihrer Entstehung notwendig.Gespräch mit anton kalkbrenner, Direktor des Österreichischen Katholischen Bibelwerks, über die historisch-kritische Methode der Bibelauslegung.

Die Furche: Seit gut 50 Jahren ist die historisch-kritische Bibelauslegung die Methode der Wahl.

Anton Kalkbrenner: Diese Methode des Zurückschauens auf die Anfänge und des Aufdeckens der Hintergründe ist unabdingbar. Wir können heute nicht mehr "naiv" an die Texte herangehen. Das wäre so, wie wenn wir hinter die Neuzeit zurück wollten. Denn die historisch-kritische Methode hängt mit unserer Zeit zusammen. Sie ist für den Umgang mit der Bibel eine notwendige Voraussetzung. Wer diese nicht akzeptiert, wählt einen naiven Umgang mit der Bibel.

Die Furche: Und wenn Menschen, die Bibel dennoch "naiv" lesen...?

Kalkbrenner: Dann zeige ich ihnen an Beispielen, wie man mit der Bibel umgehen kann. Es geht bei der historisch-kritischen Methode darum, die Bibel mit einem Grundwissen zu lesen. Man muss hinübersetzen in die Zeit, in der die Texte entstanden sind, d.h. von der Archäologie, der Geschichte, vom soziopolitischen und religiösen Umfeld der Bibel her argumentieren. Ohne dieses Grundwissen kann ich nicht an die Texte herangehen.

Mir fällt dazu ein Pfarrer beim Sonntagsgottesdienst ein, der einen Paulusbrief auslegt, indem er beginnt: "Der heilige Paulus will uns heute sagen..." Der heilige Paulus will "uns heute" gar nichts sagen, er ist schon lange tot! Er wollte aber den Menschen der damaligen Zeit etwas sagen. So muss ich einmal wissen, was er ihnen sagen wollte. Das ist das Grundanliegen der historisch-kritischen Methode. Und dann setze ich in unsere Zeit herüber und frage: Was kann das heute bedeuten?

Ein anderes Beispiel: der Zorn, der in der Bibel oft vorkommt. Ich kann nicht sagen: Ich mag die Bibel nicht, weil dauernd vom Zorn Gottes geredet wird. Sondern ich muss fragen: Was bedeutet der Zorn im biblischen Umfeld - in Ägypten, Mesopotamien? Ein König, der nicht zornig war, war kein gerechter König. Zorn hieß, dass er zu den Kleinen und Armen gerecht war und böse zu den Großen und Mächtigen. Dieses Bild hat man auf Gott übertragen: er musste zornig sein, sonst wäre er kein gerechter Gott.

Die Furche: Manche meinen aber, solche "wissenschaftlichen" Methoden würden den Glauben verfälschen.

Kalkbrenner: Man kann und muss die Bibel - das steht im Konzilsdokument "Dei Verbum"! - auch als Literatur sehen. Denn der Mensch ist ja auch nicht nur religiös oder profan, sondern er ist beides. Die Texte sind auch beides! Sie sind Heilige Schrift. Aber die Bibel ist genauso Literatur; man findet dort Märchen, Fabeln - eine Eselin spricht, die Bäume sprechen -, Novellen, Romane - es ist, literarisch gesehen, alles drinnen. Als Literatur ist sie auch mit literarischen Mitteln zu bearbeiten. Man kann nach Form, Gattung fragen, welche Texte verändert wurden - ich kann mich hier von den wissenschaftlichen Methoden nicht trennen. Das heißt ja nicht, dass ich den Glauben in Frage stelle. Denn der Glaube selber muss ja auch vernünftig sein, sonst wird auch er naiv.

Wenn ich mit Pilgergruppen nach Betlehem fahre und dort sage: Betlehem ist der Geburtsort Jesu in theologischer Sicht - und muss nicht unbedingt der historische Geburtsort sein - dann sind manche sehr befremdet. Ich erkläre dann, warum das theologisch der Geburtsort Jesu ist - mit David und seiner Herkunft aus Betlehem und Jesus als Sohn Davids. Dennoch sagt dann immer jemand: Wenn Jesus nicht in Betlehem geboren ist, bricht mein Glaube zusammen. Ich antworte dann meist: Wenn das Ihr Glaube ist, soll er ruhig zusammenbrechen! Was ist dieser Glaube dann wert?

Da lese ich im Buch Levitikus, dass der Hase ein Wiederkäuer ist, und dann im ersten Thessalonicherbrief, dass Jesus von den Toten auferweckt wurde: Beide Sätze stehen in der Bibel, aber sie sind doch nicht gleichwertig! Es gibt auch in der Bibel eine Hierarchie der Wahrheiten. Ob der Hase Wiederkäuer ist oder nicht, ist mir egal. Aber dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, ist dagegen eine zentrale Aussage. Aber gerade solche Aussagen will ich ja vernünftig untermauern. Deshalb wird der Glaube nicht in Frage gestellt, sondern gestärkt.

Die Furche: Wodurch weiß ich aber, dass die Aussage von Jesu Auferweckung wichtiger ist als andere Bibelsätze ?

Kalkbrenner: Diese Hierarchien in der Bibel sind aufzuspüren. Auch das Judentum handhabt das so: Für Juden sind die fünf Bücher Mose, die Tora, wichtiger als die Geschichts- oder Prophetenbücher...

Die Furche: Aber Ihr Beispiel vom wiederkäuenden Hasen steht in der Tora! Doch auch für Juden kann das nicht wichtiger sein als Prophetenworte...

Kalkbrenner: Auch in der Tora gibt es eine Hierarchie der Wahrheiten! Die Rabbinen sagten, die "Zehn Worte" (die Zehn Gebote) seien die "Mitte der Tora". Man diskutierte dann, ob man beim Vorlesen der Zehn Gebote aufstehen müsse. Andere meinten aber, wenn sie dabei aufstünden, dann hieße das, die anderen Texte wären weniger wichtig...

Für mich ergibt sich aus diesen Diskussionen, dass wir für uns selbst versuchen müssen, die Wichtigkeit der Sätze, die Hierarchie der Wahrheiten in den Bibeltexten zu suchen. Es gibt Texte, die den Menschen mehr treffen und berühren als andere. Vom letzten Sonntagsevangelium, dem "Hohepriesterlichen Gebet" aus den Abschiedsreden Jesu, ist mir das Wort Jesu "Heiliger Vater" hängengeblieben. D.h. ich habe schon beim Hören eine Hierarchie der Wahrheiten!

Die Furche: Aber dazu brauche ich keine historisch-kritische Auslegung: ich höre das Evangelium - und denke mir meinen Teil dazu...

Kalkbrenner: Auch Hören und Vorlesen ist wichtig. Das Vorlesen ist auch schon Auslegung, durch die Betonung, das Hervorheben von Worten wird mir schon etwas nahegebracht. Das heißt aber noch nicht, dass ich es verstehe. Ein alter Grundsatz lautet: Lies und versteh! Wenn ich nicht verstehe, was ich lese, wie soll ich das dann in mein Leben umsetzen können? Verstehen hat aber mit Historie zu tun: Ich muss zurückgehen in die Entstehungszeit. Ich muss etwas wissen von Paulus, von Jesus, vom Thessalonicherbrief, muss wissen, dass dort nicht steht: "Er ist selber auferstanden", sondern: "Er ist auferweckt worden". Man sieht an diesem kleinen Beispiel, dass es hier viele Ebenen gibt, die historisch-kritisch zu untersuchen sind. Und wenn ich fertig bin, dann kann ich sagen: Das ist der älteste Brief des Paulus mit der ältesten Aussage von der Auferweckung von den Toten.

Indem ich das also geschichtlich einbetten kann, verstehe ich schon viel leichter. Denn wenn ich es nicht verstehe, kann ich das, was ich tun soll, nicht tun. Erstens lesen, zweitens verstehen, um es drittens umsetzen zu können: Das ist der Dreischritt, Bibel heute nahezubringen. Auch das ist schon in der Apostelgeschichte grundgelegt: Dort wird vom Kämmerer der Kandake erzählt, der den Propheten Jesaja liest. Und Philippus fragt ihn: "Verstehst du, was du liest?" Der Kämmerer antwortet: "Wie sollte ich, ich habe niemanden, der mich führt."

Dieses Führen durch den Text ist nichts anderes als die historisch-kritische Methode. So gehe ich in der Bibelarbeit an die Texte heran.

Die Furche: Es gibt heute auch andere Auslegungsmethoden - tiefenpsychologische, feministische ...

Kalkbrenner: All diese Zugänge - ob tiefenpsychologisch, materialistisch, feministisch - halte ich für wichtig. Entscheidend ist dabei, dass ich diese Methoden nicht verabsolutiere - es handelt sich immer um partielle Zugänge: Ich erhalte dadurch nur einen Lichtblick, wähle einen Aspekt heraus, eine Perspektive. Es gibt Texte, die drängen sich auf, sie feministisch zu lesen: Jesus ist in der Synagoge in Kafarnaum und heilt eine Frau, die mitten unter den Leuten steht. Da muss ich fragen: Was ist da los? Warum steht da die Frau in der Synagoge? Was passiert zwischen Jesus und der Frau? Ich muss mich also mit dem Thema "Frau in Synagoge und Urkirche" auseinandersetzen.

Wir wären ohne feministische Bibelauslegung auf manches nicht draufgekommen - Diakoninnen, Apostolinnen... Im übrigen ist das ja auch eine Art der historisch-kritischen Methode: neue Zugänge zu wählen - und auch zu verantworten.

Das Gespräch führte Otto Friedrich.

Informationen: www.bibelwerk.at

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