Sarajevo - © Foto: pixabay

Poesie in Zeiten des Krieges

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Lakonisch, ironisch, sich selbst beobachtend: Erzählungen aus Jugoslawiens Höllen.

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Lakonisch, ironisch, sich selbst beobachtend: Erzählungen aus Jugoslawiens Höllen.

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Krieg im Europa des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Sarajevo wird bombardiert. Die so lange Zeit friedlich miteinander gelebt haben, werden gezwungen, sich zu trennen. Totale Destruktion. All das war jahrelang in den Medien präsent. Jetzt, fast ein Jahrzehnt danach, erreichen uns immer mehr Mitteilungen der ganz anderen Art über diesen Krieg. Über das alltägliche Leben im politischen Chaos, über die menschlichen Seiten des Unvorstellbaren. Geschichten, so lakonisch, aber vielsagend, so schmerzvoll, aber warmherzig, so grauenvoll, aber poetisch, so aussichtslos, aber zärtlich. Poesie und Ironie als letzter Ausweg aus unendlichem Leid.

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In keiner anderen exjugoslawischen Teilrepublik haben so viele Autoren - junge Menschen der "verlorenen Generation" - so oft zur Feder gegriffen wie in Bosnien. Nicht nur, um dem Kriegswahnsinn mit dem einzigen ihnen verbliebenen Mittel zu begegnen, sondern um Literatur von hohem Rang zu schaffen. Ein Kontrastprogramm zur neuen deutschen "Schnösel-Literatur", wie es schärfer nicht geht. Hier Fadesse bis zum Exzess, dort Poesie gegen den Exzess. Poesie, die ihresgleichen sucht - und zwar fast vergeblich. Breitenwirksam ist sie - wie so oft bei hoher Qualität - jedoch kaum. In Österreich und Deutschland ist nur ein kleiner, aber hoch motivierter Kreis von Lesern auf Literatur vor dem Hintergrund solcher Konflikte neugierig. Überdies ist die Ignoranz gegenüber allem Slawischen in deutschen Landen noch immer gewaltig, wenn auch im Abnehmen begriffen. In Bosnien selbst mangelt es stark an Möglichkeiten der Literaturverbreitung. Abgesehen davon ist die Hälfte des potentiellen Publikums ins Ausland geflüchtet.

Für die kleine, aber feine eingeschworene Gemeinde der Slawophilen stellt der Sammelband von Erzählungen "Das Kind. Die Frau. Der Soldat. Die Stadt", der zugleich unter dem Titel "Evakuacija" in den Originalsprachen in Split erschien, einen Meilenstein im Kennenlernen-Dürfen dieser neuen jungen Generation von bosnischen Schriftstellern dar. Der 1963 geborene, seit 1992 in Köln lebende Herausgeber Dragoslav Dedovic wählte 32 Erzählungen aus, die Bärbel Schulte ins Deutsche übersetzte. Sie stammen von 20 Autoren und drei Autorinnen, alle zwischen 1955 und 1974 geboren, und wurden - entsprechend dem Buchtitel - in vier Abschnitten gruppiert.

In keiner anderen exjugoslawischen Teilrepublik haben so viele Autoren - junge Menschen der "verlorenen Generation" - so oft zur Feder gegriffen wie in Bosnien. Nicht nur, um dem Kriegswahnsinn mit dem einzigen ihnen verbliebenen Mittel zu begegnen, sondern um Literatur von hohem Rang zu schaffen.

Alle Prosatexte entstanden zwischen 1987 und 1998, also "in einem zutiefst tragischen Zeitabschnitt". Die Hälfte der Autoren lebt mittlerweile in den USA, in Kanada, Deutschland, Kroatien, Jugoslawien, Tschechien und Holland. Ein Autor kam in Sarajevo ums Leben, einer in Kanada. Die anderen leben weiter in Sarajevo, mit zwei Ausnahmen, die in Tuzla und Mostar beheimatet sind.

Junge Autorinnen und Autoren haben bereits im politischen und gesellschaftlichen Vakuum der Jahre vor dem Krieg begonnen, die Traditionen der bosnisch-herzegowinischen Literatur neu zu bewerten. Sie wendeten sich von der "verbrauchten sozialistischen Pathetik" ab. Der Herausgeber in seinem Vorwort: "Die Sympathie von ausgeprägten Individualisten zu einer Art nonchalanter, ein wenig snobistisch urbaner Distanz, gegenüber der nationalistischen Hysterie, wird sich später als literarisch gewichtiger erweisen als alle anderen generationsabhängigen Modelle der damaligen literarischen Szene."

Die Entscheidung, zu emigrieren, fällt schwer und bestimmt das ganze weitere Leben. Wer geht, hat "nicht zwei Heimatländer, sondern zwei fremde Länder". Viele Erzählungen kreisen um diese schmerzliche Erfahrung. In der zweiten Fremde fehlt der sprachliche Kontext, dabei bleibt aber nur "die Sprache als einziges Ruhebett". In einer besonders beeindruckenden Geschichte, "Montage der Attraktionen" von Aleksandar Hemon, wird dies mehrmals angesprochen: "Wie unbequem und unbeholfen ich mich im Englischen fühle, wie ich untergehe in der Sprache und meine Sätze mit Wörtern um sich werfen, wie die Hände eines Kindes beim Ertrinken." Doch sein Buch "Die Sache mit Bruno", das soeben auf deutsch erschien, hat Hemon bereits auf Englisch geschrieben.

Bücher von Miljenko Jergovic, Semezdin Mehmedinovic, Nenad Velickovic, Aleksandar Hemon und Dragoslav Dedovic wurden bereits ins Deutsche und teilweise in weitere Sprachen übersetzt. Hoffentlich warten wir auf Übersetzungen der anderen dieser meisterhaften Erzähler nicht vergeblich.

Die Entscheidung, zu emigrieren, fällt schwer und bestimmt das ganze weitere Leben. Wer geht, hat "nicht zwei Heimatländer, sondern zwei fremde Länder".

Für das größte Staunen der psychologisch geschulten Rezensentin hat allemal die Poesie als offenbar wirksame Medizin gegen das drohende Verrücktwerden gesorgt. Ich kann mir kein anderes Land vorstellen, in dem trotz oder gerade wegen des unglaublichen Abschlachtens von Menschen soviel Poesie, Ironie und Lakonie hätte entstehen können. Goran Samardzics Erzählung "Das Gespött der Seele" ist ein Inbegriff von Zärtlichkeit, ein Inbegriff des Menschenmöglichen, dem Wahnsinn zu widerstehen: Eine kleine Geschichte über die hingebungsvolle Beziehung eines Soldaten zu einer Katze, die in den Schützengraben springt - ausgerechnet aus der Richtung, aus der gewöhnlich geschossen wird: "Aus Angst etwas zu verderben, hörte ich auf zu atmen. Ich dachte, dies wäre ein gutes Zeichen und der Auftakt zu einer sanfteren Zeit." Der Soldat verstand plötzlich seine anfängliche Begeisterung beim Schießen immer weniger. "Deshalb wandte ich mich mit soviel Hoffnung den Sternen zu; der seltsamen Materie, zu lauschen, was sie mir zu sagen haben ... Etwas musste ich ändern, schnell und augenblicklich, denn jedes Aufschieben verlängerte die Qual. Um mich von den schwarzen Gedanken loszureißen, begann ich mich um die Katze zu kümmern".

Die anderen machen sich darüber lustig und der Soldat schämt sich, dass ihm eine Katze etwas bedeutet. Das Ende der Geschichte, die Katze ist nicht mehr am Leben: "Auf dem Weg zum Lager konnte ich nicht anders, als mich freuen, dass ich noch am Leben war. Die Trauer um die Katze war ein gewöhnlicher Trick, den mir die Seele bereitete, damit sie etwas zu tun hatte. Wenn sie um nichts trauerte, heulte sie ins Leere oder freute sich wie jetzt und sprang herum, um mich in einem lebendigen Zustand zu erhalten. Sie wollte, dass ich sie möglichst lange aushalte und trage, denn sie wusste nicht, was ohne mich auf sie wartete. Sie langweilte sich im Käfig des Körpers und dachte sich aus, was schwer verständlich war. Selten, dass wir uns eins waren, meine Seele und ich, aber ich kannte keine andere. Ich dachte, dass es vielleicht einmal, wenn wir uns auf immer trennen, jemandem leid tun wird. So dachte ich."

Die Welt dieser Erzählungen, Empfindungen und Gedanken der Figuren sind völlig anders als bei uns, wo Business und Konsum alles beherrschen und sich wohl nur wenige Gedanken solcher Art machen. Wird doch alles getan, um möglichst selten zu sich zu kommen.

das kind. die frau. der soldat. die stadt.
Erzählungen. Herausgegeben von Dragoslav Dedovic. Aus dem Bosnischen, Kroatischen und Serbischen von Bärbel Schulte.
Drava Verlag, Klagenfurt 1999, 367 Seiten, geb., öS 329,-/e 23,91

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