Politische Gesinnung am Evangelium messen

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Wer öffentliches kirchliches Engagement ablehnt, vergißt, daß auch eine schweigende Kirche politisch ist.

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Wer öffentliches kirchliches Engagement ablehnt, vergißt, daß auch eine schweigende Kirche politisch ist.

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Die Debatte. Einen Maulkorb für die Kirchen?

Zum Thema. Kirchen und Politik. Die Debatte um die evangelische Superintendentin Gertraud Knoll heizt die Diskussion über das Verhältnis zwischen Kirchen und Politik neu an. Knoll wurde seit ihrer Teilnahme an der Großdemonstration vom 19. Februar vor allem aus den Reihen der FPÖ heftig angefeindet, eine Unterschriftenaktion gegen sie wurde eingeleitet. Aufgrund zahlreicher Drohungen trat Knoll einen Sonderurlaub an. Die evangelische Kirchenleitung, katholische Organisationen und Persönlichkeiten stellten sich hinter Knoll. Bleibt die Frage, ob und wie Vertreter der Kirchen sich politisch zu Wort melden sollen: Dazu äußern sich der evangelische Oberkirchenrat Michael Bünker und die Gewerkschafterin Christa Ellbogen, die einzige deklarierte Katholikin, die bei der Demonstration am 19. Februar gesprochen hat. WM Die Ereignisse der letzten Wochen zeigen, daß das politische Engagement der Kirche(n) von zwei Seiten in Frage gestellt wird. Auf der einen Seite von den Akteuren der Politik, die eine unzulässige Einmischung der Kirche(n) in ihre Angelegenheiten fürchten. Dabei werden Erinnerungen an den politischen Katholizismus des Ständestaates und an Bundeskanzler Ignaz Seipel wachgerufen. Aufgrund dieser Erinnerungen wird behauptet, daß die Kirche(n) zu den politischen Parteien eine "Äquidistanz" zu wahren hätten. Daraus kann dann gefolgert werden, daß es den Kirchen verwehrt wäre, zu aktuellen politischen Fragen in der Öffentlichkeit Stellung zu nehmen, wenn sie dieses "Äquidistanzgebot" nicht verletzen wollten.

Evangelische haben hellhörig wahrzunehmen, wie sich in dieser Argumentation die speziell österreichische Geschichte niederschlägt. Von ihr sind die Evangelischen insofern geprägt, als sie Politik lange Zeit hindurch als Instrument der Unterdrückung und der Diskriminierung erfahren hatten und erst seit relativ kurzer Zeit als Angehörige einer "freien Kirche im freien Staat" zu lernen begannen, ihre Stimmen in die politische Auseinandersetzung einzubringen. Besonders erschwert wird das aber durch die Schuldgeschichte der evangelischen Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus. Daraus wurde gelernt: Politisches Engagement kann schuldig machen, politisches Engagement kann irrig sein. Daher - so die falsche Lehre: Hände weg von der Politik, politisch Lied, pfui, ein garstig Lied!

Eine Änderung dieser Einstellung erfolgte nur langsam und konfliktreich seit den siebziger Jahren. Vorreiter dafür waren Wilhelm Dantine, die Evangelische Akademie Wien, die Salzburger Gruppe und andere. Grundsätzlich, das belegen auch katholische Stimmen, läßt sich das "Äquidistanzgebot" in Frage stellen, weil nicht mehr die Kirchen ihre Nähe oder Distanz zu den Parteien festlegten, sondern umgekehrt: die Parteien haben es "in unserem Land weitgehend selbst in der Hand, ihr Verhältnis zur Kirche zu bestimmen". Daher ist das Verhältnis variabel und "abhängig vom Grad der programmatischen und praktischen Gemeinsamkeit im Erstreben humaner Grundwerte" (Österreichischer Synodaler Vorgang 1974).

Als zweites kommt dazu, daß innerhalb der evangelischen Kirche(n) folgender Konflikt aufgebrochen ist: Während die Mehrheit der Evangelischen besonders im Bereich der Gesellschafts- und Umweltpolitik ein verstärktes öffentliches Engagement ihrer Kirchen erwarten, scheint es (laut)starke Gruppierungen zu geben, die das rundweg ablehnen. Sie argumentieren, daß die Kirchen "für alle da sein" müssen, daß sie nicht parteiisch und notfalls auch polarisierend Stellung nehmen dürfen. Die Kirchen seien Orte der Harmonisierung und Nischen in den rauher werdenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Freilich übersehen diese Stimmen, daß auch eine schweigende Kirche politisch ist, daß eine Kirche nicht "für alle" sondern im Sinne Dietrich Bonhoeffers "für andere" (zum Beispiel für Flüchtlinge) da zu sein hat, daß sie ihrem Auftrag, dem Evangelium Jesu Christi, verpflichtet ist, an dem sich die politischen Gesinnungen und religiösen Harmoniebedürfnissen ihrer Mitglieder kritisch messen lassen müssen.

Die politische Diskussion, die Kultur der politischen Auseinandersetzung ist in Österreich zuwenig entwickelt. Die öffentliche Rolle der Kirchen in der Entwicklung der Zivilgesellschaft in Österreich und die politische Diskussion innerhalb der Kirchen selbst liegen als Aufgaben noch vor uns. Das geschieht aus evangelischer Sicht nicht, um die Politik zu christianisieren oder die Gesellschaft zu missionieren. Es geschieht aber, um die politische Verantwortung der Christen und Christinnen sachgerecht wahrzunehmen und die Gewissen der politisch Verantwortlichen zu schärfen.

Der Autor ist Oberkirchenrat der Evangelischen Kirche A.B.

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