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Provozieren, um die Diskussion in Gang zu bringen
Man hat dem Kirchenvolks-Be-gehren (KVB) theologische Mängel vorgeworfen sowohl was die Auswahl wie auch den Inhalt der Forderungen angeht. Dabei ist es natürlich nicht darum gegangen zu formulieren, was zum Beispiel nach Meinung von Theologen eine wohl ausgewogene Kurzfassung katholischen Glaubens und katholischer Moral sein könnte. Es ist vielmehr darum gegangen, zu sagen, wo die Menschen in der Kirche vor allem der Schuh drückt, wo also eine Diskrepanz zwischen der offiziellen Lehre und Praxis der Kirche einerseits und den Überzeugungen, Wünschen und Nöten des Kirchenvolks anderseits besteht.
Die verschiedenen Gruppen, die das KVB getragen haben, haben sich nun zu einer Plattform „Wir sind Kirche", die die Anliegen der Unterschriftenaktion weiter tragen will, zusammengetan. Von dieser Plattform
kommt nun der „Herdenbrief". Er will ausführlicher als die Texte des KVB die Anliegen, die mit Liebe, Eros und Sexualität zusammenhängen, formulieren und theologisch vertiefen. Da aber die Leser aufgefordert werden, positive und negative Kritik einzureichen, die dann eingearbeitet werden soll, ist hier ein ähnliches Vorgehen geplant, wie wir es vom Sozialhirtenbrief der österreichischen Bischöfe kennen.
Akzente setzen, die Laien vermissen
Wie zu erwarten, will der Herdenbrief nicht einfach die gängigen kirchlichen Formulierungen zur einschlägigen Thematik kopieren, sondern Akzente setzen, die die Laien (etwa die Unterschreiber des KVB) in der kirchlichen Verkündigung vermissen oder zu schwach ausgeprägt finden. Der „Herdenbrief" soll ein Feedback geben, das immerhin Ausdruck der Uberzeugung eines Großteils der Katholiken in unserem Land darstellt. Damit wird ein wertvoller Dienst im Bahmen des innerkirchlichen Dialogs geleistet.
Daß sich der Herdenbrief mit Fragen der Sexualität befaßt, ist nicht
überraschend. Denn diese Thematik wird nicht nur in den meisten Forderungen des KVB angesprochen, sondern findet auch in der kirchlichen Lehrverkündigung am meisten Kritik und am wenigsten Vertrauen.
Ein Hauptanliegen des Schreibens ist eine positive Bewertung von Eros und Sexualität, die ja von Gott geschaffen und in den Dienst der Liebe gestellt sind. Sie dienen auch in der Erfahrung der Lust der Vitalität und Lebensfreude. Geschlechtlichkeit soll nicht immer gleich unter dem Aspekt der Sünde gesehen werden. Auch im 6. Gebot geht es ursprünglich nicht um ein Sexualgebot, sondern um die Verpflichtung zur Treue in der Ehe.
Ein wenig störend finde ich die Kritik, als ob die Tradition einen völlig übergangslosen Wechsel von der absoluten Enthaltsamkeit zum vollen Sexualleben in der Ehe gefordert hätte. Eheschließung bedeutet ja doch nicht die Verpflichtung, dann
vom ersten Tag an ein „volles Sexualleben" zu führen. Es schiene mir in diesem Zusammenhang auch durchaus ein Wort über voreheliches Sich-Näher-Kommen angebracht, das ja nicht darin bestehen sollte, daß man schon am ersten Tag miteinander ins Bett geht. Es gibt hier auch ein verfrühtes Intimwerden.
Die Themen der Gleichgeschlechtlichkeit und der Empfängnisverhütung werden wohl so, wie sie hier behandelt werden, Protest auslösen. Vielleicht ist es unvermeidlich, auch etwas zu provozieren, um die Diskussion über diese Tabus (besonders was die Homosexualität betrifft) in Gang zu bringen. Daß die Empfängnisverhütung in erster Linie ein medizinisches Problem sei und nicht ein sittliches, scheint mir ebenfalls etwas überzogen formuliert, denn wenn in diesem Zusammenhang von der Verantwortung der Partner die Bede ist, dann spricht man ja gerade den ethischen Charakter an.
Daß das Eheverbot der Weltpriester aus einer liebe-, frauen- und sexualfeindlichen Epoche der Kirche stammt, ist sicher richtig. Ob damit die Sinnhaftigkeit des Zölibats erschöpfend charakterisiert ist, ist eine andere Frage. Vielleicht könnte man dazu auch noch etwas Positives sagen.
Kritikpunkte einarbeiten
Man darf hoffen, daß die einzelnen Kritikpunkte in diesem Schreiben in der weiteren Bearbeitung des Textes noch verbessert werden und daß dadurch das Ganze noch überzeugender sein wird. Aber schon der. Entwurf liest sich nicht nur sehr schön, sondern sagt auch theologisch viel Zukunftsweisendes und vermutlich so, wie es auch im Gewissen der Gläubigen von heute empfunden wird.
Besonders ansprechend ist, daß hier ein Thema mit großer Offenheit angegangen wird, das oft noch einen sehr tabuhaften Charakter hat. Darin zeigt sich ein Stück Freiheit des Denkens und des Sprechens in der Kirche, das man dankbar aufnehmen wird.
Der Autor ist
Professor für Moraltheologie an der Universität Innsbruck
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