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„Prüft alles - lebt mit dem Guten!"

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Im Leben vieler Menschen spielt die spirituelle Frage keine Rolle mehr. Die Spiritualität anderer wird als private Angelegenheit betrachtet, die in täglichen Interaktionen ohne Bedeutung ist. Etwa 30 Prozent der Europäer sehen sich als nichtreligiös, 55 Prozent als religiös an. Die Werte für Jugendliche liegen beträchtlich höher. Etwa 60 Prozent äußern ein „freundliches Desinteresse" gegenüber religiösen und kirchlichen Themen. Dauerpartnerschaft, Liebe und Freundschaft, materielles Wohlergehen und Beruf sowie die Sorge um soziale oder ökologische Mißstände werden als Werte in sich selbst (Entitäten), als Selbstzwecke oder notwendige Fundamente eigenen Wohlergehens ohne Trahszen-denzbezug gesehen.

Ein spirituelles Vakuum existiert in den großen Kirchen, sofern sie ihre spirituellen, vor allem mystischen Traditionen vernachlässigt haben. Die kirchlich sanktionierten Sprachrege-

lungen haben eine stärkere Gültigkeit als die Glaubenserfahrungen der Menschen. Auch der Dialog mit anderen spirituellen Bewegungen wurde jahrhundertelang unterbunden. Viele Menschen sind auch wegen ihrer spirituellen Bedürftigkeit der Kirche entfremdet worden. Während der Dalai Lama weltweit als spirituelle Gestalt verehrt wird, gilt der Papst eher als Repräsentant von Kirchen- und Machtpolitik, wird allenfalls als moralische Gestalt anerkannt.

Ein spirituelles Vakuum existiert weniger im Bereich der Volksfrömmigkeit, der ökologisch orientierten Such- und Veränderungsprozesse zur Bewahrung der Schöpfung, der feministisch, biblisch, basisgemeindlich orientierten Religiosität, der transpersonal und humanistisch ausgerichteten Psychotherapie. Gleichwohl halten inner- und außerkirchliche Frömmigkeitspraktiken einer kritischen Prüfung bisweilen nicht stand; es gibt Fehlformen und Mangelerscheinungen.

Was ist eigentlich Spiritualität? Sie

ist eine Achtsamkeit für die Dimension des Lebens, die über den einzelnen hinausgeht, die Erde umfängt und in der persönlichen Tiefe des einzelnen präsent ist. Es gibt keine reine, ausschließlich als Vollgestalt gelebte Spiritualität; sie ist stets Suchprozeß, Auseinandersetzung, an der Grenze von wilder und zivilisierter Religion. Daher gehören zur Spiritualität Umbrüche und Versuche. Entscheidend ist, ob sich Spiritualität anfragen und korrigieren läßt im Blick auf die Voll-

gestalt als kritisches, regulatives Ideal, das angestrebt wird. Spiritualität hat sich immer den Kriterien der Selbst-, Sozial- und Schöpfungsverträglichkeit zu stellen.

Wie setzte sich die Kirche mit außerkirchlichen spirituellen Strömungen auseinander? Sie schwankte immer zwischen vereinnahmenden und bekämpfenden Vorgangsweisen,

je nachdem, wie sie ihre Chancen einschätzte, die spirituelle Oberhand zu behalten. Sie wählte aber auch die Form der Duldung, um den Einfluß auf die Lehre durch subjektive Glau-benserlebnisse zu begrenzen. Mit dem Verlust ihrer gesellschaftlichen Monopolstellung in jüngerer Zeit verlor sie auch die Kontrolle über spirituelle Strömungen. Zugleich führte die verstärkt dogmatische und katechetische Ausrichtung der Kirche zu einem Kompetenzverlust bei den kirchlich Verantwortlichen. Viele Menschen sehen in der Kirche keine spirituelle Kompetenz mehr und wenden sich anderen spirituellen Traditionen zu.

Wie sollen sich die Kirchen verhalten? Da das kulturelle Vakuum auf lange Zeit kulturbestimmend sein wird, wird der Dialog mit außerkirchlichen spirituellen Strömungen und Praktiken zu einer Überlebensfrage der Kirche werden. Entscheidend ist aber auch, ob und wie sich die innerkirchliche spirituelle Tradition weiterentwickelt. Eine große Chance künftiger Spiritualität liegt in einem

transkirchlichen Dialog- und Such-prozeß, der auf eine Dekonstruktion der kirchlichen Spiritualität hinausläuft: Prüft alles - lebt mit dem Guten! Indem die Kirche ihre eigenen spirituellen Traditionen neu entdeckt, gewinnt sie zurück, was zu ihrer ureigensten Kompetenz gehört: Sie wird zum erfahrbaren Sakrament des Heils.

Der Autor ist

Philosoph, Theologe, Therapeut und Publizist in Frankfurt!Main

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