Radikal jenseits

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Vor 200 Jahren setzte Kleist seinem Leben ein Ende. Seine Texte bleiben unvergleichlich modern.

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Vor 200 Jahren setzte Kleist seinem Leben ein Ende. Seine Texte bleiben unvergleichlich modern.

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"Lieblingsbücher verraten mehr, als einem lieb sein kann. Wer Kleists "Michael Kohlhaas" dazu zählt, bekennt sich zu einem höchst zwiespältigen Charakter, war der doch "einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit". Die Geschichte des Rosshändlers, der durch den Junker von Tronka zweier Rappen beraubt wird und in seinem Versuch, sich Gerechtigkeit zu erzwingen, buchstäblich über Leichen geht, führt ins Herz der Kleist'schen Finsternis. Ungebrochene Helden sind bei Kleist nicht zu haben. Auch der preußische General "Prinz Friedrich von Homburg", ja sogar der antinapoleonisch aufmunitionierte Cheruskerfürst Herrmann, der in der "Herrmannsschlacht", der "größten Partisanendichtung aller Zeiten"(Carl Schmitt), den römischen Eindringling Varus besiegt, ist alles andere als eine Lichtgestalt.

Dass der 1777 geborene Offizierssohn Heinrich von Kleist sich mit solcher Inbrunst mit der "gebrechlichen Einrichtung der Welt" beschäftigte, mit der "unheilbaren Seite der Natur" (Nietzsche), macht ihn auch 200 Jahre nach seinem Tod so unvergleichlich modern. Es ist sein auf jede Tröstung verzichtender Blick in den Abgrund, der ihn den Klassikern entfremdet und der Romantik nahe rückt, es ist seine Lust an der Zerreißprobe, sein Gefühl für das Tragische, das ihn für Goethe nicht genießbar erscheinen lässt -denn der war, so Nietzsche, "conciliant und heilbar".

Aus Rechtgefühl zum Mörder

So fühlen wir mit dem wackeren Kohlhaas, wenn er sich gegen Arroganz und Willkür der Oberen zur Wehr setzt, und möchten ihm zugleich in die Parade fahren, wenn er ohne Maß sein Ziel verfolgt und den highway to hell im Galopp hinuntersprengt. Denn Kohlhaas tut etwas Paradoxes, eigentlich Unmögliches: Er schweift in einer Tugend aus. Sein "Rechtgefühl" macht ihn, nach dem Urteil des Erzählers, zum "Räuber und Mörder".

Freilich hat der Dichter hier auch ein Spiegelbild entworfen. Das Exzessive und das Rabiate macht Kleist zu einem, der seine Leser das Fürchten lehrt. Kein Wunder, dass seine Penthesilea Goethe zu Tode erschreckte: eine Frau, die, buchstäblich außer sich, im Bund mit ihren Hunden über den geliebten Achill herfällt, um ihn zu zerfleischen - weil sie dem Gesetz der Amazonen folgt oder weil sie ihn nicht triumphieren lassen kann? Jedenfalls weiß sie nicht, was sie da getan: "Küsse, Bisse, / das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, / Kann schon das Eine für das Andre greifen."

Berühmtester Gedankenstrich

Zerrissenheit, Zufall, Verwechslung und Verwirrung der Gefühle kennzeichnen Kleists Novellen wie seine Stücke, auf die Spitze getrieben in der Beischlaftäuschung in "Amphitryon", dem "Lustspiel", in dem eine Frau erfahren darf, wie es ist, den Gatten gegen einen Gott zu tauschen - ihr das Stück beschließendes "Ach", als sie den Amphitryon zurückbekommt, sagt nichts und alles. Kleist ist fasziniert von unsicheren Identitäten, sein Witz stellt alles infrage, die amtliche Autorität und die Ordnung der Welt, wie sein diabolisches Lustspiel "Der zerbrochne Krug" ebenso beweist wie die knappest hingeworfenen "Anekdoten" des (einmal mehr verkrachten) Zeitungsmachers Kleist.

Und Kleists Sprache? Die Exerzierordnung der preußischen Garde, der der Einundzwanzigjährige nach siebenjährigem Dienst entkam, scheint den lückenlosen Sätzen seiner Prosa eingedrillt. Doch der ewige Soldat Kleist glaubt sich selbst seinen Glauben an die Ordnung nicht. Durch die Lücke des Zweifels dringen allemal Chaos und Gewalt. Der berühmteste Gedankenstrich der Literaturgeschichte steht für das Unerhörte, das Perfide: "Hier -traf er () Anstalten, einen Arzt zu rufen", heißt es in "Die Marquise von O " über den russischen Offizier, der, Engel und Teufel in einem, die Pause nützt, um die Bewusstlose, die er soeben vor der Soldatenmeute gerettet hat, höchstpersönlich zu vergewaltigen. Überhaupt widmet Kleist sich nackten Tatsachen mit skandalöser Deutlichkeit, die oft just in der Aussparung hervorleuchtet: "Was weiter erfolgte, brauchen wir nicht zu melden, weil es jeder, der an diese Stelle kommt, von selbst lies't", verrät der Erzähler über "Die Verlobung in St. Domingo" und spart gleich noch einen Buchstaben ein.

Glück erst im Angesicht des Todes

So akkurat der Dichter seine Satzzeichen setzt, so wenig vertraut er dem Kunstmittel Sprache. So sehr Leidenschaften seine Figuren regieren, so wenig gibt ihr Autor vor, ihnen unters Schädeldach zu blicken. Er zeigt, was an der Oberfläche geschieht: Tränen fließen, Gesichter erröten, Menschen fallen in Ohnmacht -auch die Männer, wohlgemerkt.

Der Prinz von Homburg zum Beispiel, der die militärische Todsünde der Insubordination nicht begreifen will, liegt öfter da, als es einem aufrechten Kavalleristen gut ansteht. Zuerst winselt er in würdeloser Weise um sein Leben, zuletzt fällt er in Ohnmacht, als der Kurfürst ihn begnadigt. Dazwischen liegt seine Läuterung, die begeisterte Zustimmung zum eigenen Untergang: "Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein!" Ähnlich freudig unterwirft Kohlhaas sich dem Todesurteil des Kurfürsten, der dafür gesorgt hat, dass ihm sein Recht geschieht und er seine Rappen, Phallussymbole natürlich, "dickgefüttert" zurückerhält. Überhaupt finden Kleists Gestalten so etwas wie Glück erst im Angesicht des Todes, ganz wie ihr Autor, der sein Leben lang ihm Nahestehende bestürmte, gemeinsam zu sterben -und schließlich Henriette Vogel fand. Denn so wie bei Penthesilea, durch schiere Autosuggestion, gelingt die Entleibung eben nur in der Literatur.

Die Balance von individuellem Glück und sozialem Zwang ist in Kleists Werk höchst labil. "Froh kann ich nur in meiner eigenen Gesellschaft sein, weil ich da ganz wahr sein darf." - Wahr ist Kleist aber auch in seinen grandiosen Briefen. Unmöglich, ihn einer Partei zuzuschlagen: Ist er ein Kritiker der Obrigkeit, des Kolonialismus, des Militarismus, der Kirche, der Religion? Kleist ist radikal jenseits. In der Novelle "Der Findling" pfeift der zum Tode verurteilte Held auf die Absolution, weil er sein Mordopfer bis in die Hölle verfolgen will. Wollte Kleist Partei ergreifen, wie in der "Herrmannsschlacht", dann ist ihm seine Kunst dazwischengekommen. Pazifist war der Leutnant a. D. keiner. Wie im Splattermovie spritzt bei ihm die Gehirnmasse. "Schlagt ihn todt! Das Weltgericht /Fragt euch nach den Gründen nicht!", hetzte er gegen Napoleon.

Sein Ende hat Kleist im Monolog des Homburg herbeifantasiert: "Und wie ein Schiff, vom Hauch des Winds entführt, / Die muntre Hafenstadt versinken sieht, / So geht mir dämmernd alles Leben unter". Von "Triumpfgesang" ist in einem Abschiedsbrief die Rede, im allerletzten hat er noch eine prosaische Bitte: "Ich habe nämlich vergessen, meinen Barbier für den laufenden Monat zu bezahlen, und bitte, ihm I Thal à 1/3 C zu geben."

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