Radikale Christin außerhalb der Kirche

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Linke Gewerkschafterin, talentierte Philosophin und radikale Mystikerin: in ihrem kurzen Leben war Simone Weil das alles, und doch wird keine dieser Etikettierungen ihrem Leben und Werk gerecht. Am 3. Februar wäre sie 90 Jahre alt geworden.

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Linke Gewerkschafterin, talentierte Philosophin und radikale Mystikerin: in ihrem kurzen Leben war Simone Weil das alles, und doch wird keine dieser Etikettierungen ihrem Leben und Werk gerecht. Am 3. Februar wäre sie 90 Jahre alt geworden.

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Von Haus aus hatte Simone Weil mit dem Christentum nichts zu tun. 1909 in einem agnostischen jüdischen Elternhaus geboren, wuchs sie ohne Religion auf. "Ich kann sagen, daß ich mein ganzes Leben lang niemals, in keinem Augenblick, Gott gesucht habe", schrieb sie später.

Simone Weil gehörte zu den ersten Frauen, die an der Ecole Normale Superieure, der elitären staatlichen Ausbildungsanstalt für Gymnasiallehrer, studieren konnte. Eine "richtige" Lehrerin ist sie nie geworden: Sie las mit ihren Schülerinnen Texte von Plato, Kant und Descartes anstatt der vorgeschriebenen Lehrbücher und hielt sie an, eigene Aufsätze zu schreiben. Sie war selbst eine kreative Denkerin, aber Denken allein war ihr zu wenig. Sie wollte dabei sein, wenn Menschen um ihre Lebensgrundlagen kämpften, und ihre Erfahrungen teilen. So begleitete sie eine Arbeitslosen-Delegation zum Bürgermeister, engagierte sich für die gewerkschaftliche Einheit, ging nach 1932 nach Deutschland, um das Aufkommen des Faschismus zu studieren, und 1936 nach Spanien, um auf seiten der Republikaner zu kämpfen. Sie arbeitete als Hilfsarbeiterin in einem Elektrokonzern und als Fräserin bei Renault; als sie arbeitslos war, hungerte sie, um nicht mehr Geld zu verbrauchen, als einem Arbeitslosen täglich zusteht.

Bei einem Urlaub in Portugal erlebte sie das Patronatsfest in einem armseligen Fischerdorf und spürte dabei "die Gewißheit, daß das Christentum vorzüglich die Religion der Sklaven ist und daß die Sklaven nicht anders können als ihm anhängen, und ich unter den übrigen". Ein weiteres entscheidendes Erlebnis in Assisi beschreibt sie so: "Während ich allein war in Santa Maria degli Angeli, der kleinen romanischen Kapelle aus dem 12. Jahrhundert, diesem Wunder an unvergleichlicher Reinheit, wo der heilige Franziskus so oft gebetet hat, zwang mich etwas, das stärker war als ich selbst, zum ersten Mal in meinem Leben, auf die Knie zu fallen." Ostern 1938, als sie bereits unter den bohrenden Kopfschmerzen litt, die sie ihr Leben lang nicht mehr los wurde, feierte sie in der Benediktinerabtei Solesmes; bei den gregorianischen Gesängen hatte sie ein ekstatisches Erlebnis reiner und vollkommener Freude.

Die Erfahrungen in Portugal, in Assisi und in Solesmes nannte sie später jene "drei Berührungen mit dem Katholizismus, die wirklich gezählt haben". Das Ungewöhnliche daran beschreibt der französische Literaturwissenschaftler Maurice Blanchot (im August-Heft 1998 der Zeitschrift "Akzente"): "Ein beispielloser Fall, den man nicht neben den Claudels (des Schriftstellers der katholischen Erneuerung in Frankreich, Paul Claudel, Anm.) stellen kann. Simone Weil ist nicht konvertiert, und sie wird es nie tun, trotz allen inneren und äußeren Drängens."

Eigenartige Berufung Am Vorabend der Besetzung von Paris durch die deutschen Truppen floh Simone Weil mit ihren Eltern nach Marseille, wo der fast blinde Dominikaner Jean-Marie Perrin zum wichtigsten religiösen Gesprächspartner ihres Lebens wurde. Im Sammelband "Zeugnis für das Gute" finden sich ihre Abschiedsbriefe an Perrin, ihre "geistliche Autobiographie". Zusammen mit ihren Eltern kam Simone Weil 1942 über Casablanca nach New York. Dort faßte sie im "Brief an einen Ordensmann" ihre Bedenken gegen die katholische Kirche zusammen und schrieb, "daß meine Berufung die einer Christin außerhalb der Kirche ist".

Diese Position hat Simone Weil im Lauf ihres Lebens mehrfach begründet. Sie wollte in die Kirche nicht wie in eine Partei eintreten; sie fürchtete "jenen Kirchenpatriotismus, der in der katholischen Kirche herrscht". Sie wollte ihre Solidarität mit den Menschen und den geistigen Strömungen, die von der Kirche ausgeschlossen worden waren, nicht aufgeben. Sie dachte an große Heilige, die unter dem Einfluß der Kirche die Kreuzzüge gerechtfertigt haben, und überlegte, welchen Schaden die Kirche ihr dann wohl zufügen könnte. Das Denken wie die Berührung mit Gott waren für sie strikt individuelle Vollzüge, die von einem gesellschaftlichen Gebilde - auch von der Kirche - nur korrumpiert werden können.

Als sie in London (noch 1942 war sie nach Europa zurückgekehrt) bei der Resistance-Gruppe "France libre" mitarbeitete, hat Simone Weil ihre Haltung nicht geändert. Noch in ihrem letzten Text (ebenfalls in den "Akzenten" abgedruckt) sprach sie von einer Situation "die einen in den Augen der Ungläubigen zu einem pathologischen Fall macht, weil man ohne die Entschuldigung eines gesellschaftlichen Zwanges absurden Dogmen anhängt, und in der man bei den Katholiken das schützende, ein wenig herablassende Wohlwollen desjenigen weckt, der angekommen ist, für denjenigen, der unterwegs ist." Falls Simone Weil vor ihrem Tod noch getauft wurde - immer wieder wird darüber spekuliert - geschah es vermutlich in bewußtlosem Zustand.

Am 24. August 1943 starb Simone Weil. Die Diagnose des Arztes lautete: "Herzversagen durch Herzmuskelschwäche, hervorgerufen durch mangelhafte Ernährung und Lungentuberkulose. Die Verstorbene hat sich selbst getötet und zerstört, indem sie sich in einer Phase von Geistesgestörtheit weigerte zu essen."

Viele biographische Darstellungen unterschlagen den zweiten Satz, um den solidarischen Opfertod nicht in Zweifel zu ziehen. "Eher als ein Opfer war Simone Weils Tod das Zerbrechen eines Menschen, der am Ende die Widersprüche der Epoche, aber auch seiner eigenen Existenz und seines Denkens nicht mehr aufzulösen vermochte", schreiben die Übersetzer der Cahiers von Simone Weil.

Verfälschtes Bild Nach ihrem Tod wurde Simone Weil christlich vereinnahmt, die revolutionäre Denkerin blieb im deutschen Sprachraum bis in die siebziger Jahre unbekannt. Der katholische Schriftsteller Gustave Thibon, dem sie in Marseille ihre Arbeitstagebücher, die "Cahiers" zur Aufbewahrung anvertraut hatte, gab 1947 eine Auswahl heraus, die 1952 auf deutsch unter dem Titel "Schwerkraft und Gnade" erschien. Das war das erste Buch von Simone Weil, und damit wurde sie schlagartig bekannt. Die Zusammenstellung ist gelenkt von einer katholischen Interpretation, die radikale Kirchenkritik blieb ausgeblendet. Vor allem vermitteln die aphorismusartigen, nach Themen geordneten Texte ein völlig falsches Bild von Simone Weils Denk- und Schreibweise. Der Gerechtigkeit halber muß man aber auch ins Treffen führen, daß die Veröffentlichung der gesamten Cahiers wohl keine Chance gehabt hätte, einen Verlag und ein Publikum zu finden.

Provokantes Denken In der deutschen Ausgabe hat man - ohne das überhaupt kenntlich zu machen - den Abschnitt "Israel" einfach weggelassen (eine zweifelhafte Idealisierung Simone Weils und Niederschlag eines verordneten Philosemitismus aus eigener unbewältigter Vergangenheit, man denke nur an die christlich-jüdischen Gesprächskreise jener Zeit, die Heinrich Bölls "Ansichten eines Clowns" so herrlich ironisiert). Allerdings ist der schematisch-undifferenzierte Antijudaismus Simone Weils - sie nimmt beispielsweise die Propheten oder die Psalmen so gut wie nicht zur Kenntnis - tatsächlich ein Problem, das vielleicht aus der Integration der assimilierten Jüdin in die französische Kultur ein Stück weit verständlich wird.

Seit Herbst 1998 liegen die Cahiers von Simone Weil in einer vorbildlichen vierbändigen deutschen Ausgabe vor. Neben philosophischen Reflexionen, Auseinandersetzungen mit der Baghavadgita und den Upanishaden, mit Bibel, Mythologie, Märchen und Literatur finden sich darin Zeugnisse eines radikalen Christentums, das in den Sakramenten eine Grunddimension der Weltdeutung sieht, die gegen ihre Abschwächung in der Reformation wie gegen die Vereinnahmung durch das Machtgefüge der katholischen Kirche verteidigt werden.

Zweifellos finden sich bei Simone Weil auch abenteuerliche Vergleiche und Interpretationen sowie apodiktische Formulierungen, gegen die man Einspruch erheben will. Aber immer begegnet man dem Feuer eines originalen und kreativen Denkens und einer religiösen Leidenschaft, die zu eigener Auseinandersetzung zwingt.

Tips * Vortrag:Simone Weil - Faszination und Provokation Cornelius Hell über die Philosophin und Mystikerin.

Mittwoch, 3. Februar, 19.30 Uhr Ort: Kath. Akademikerverband, 1090 Wien, Währinger Straße 2-4, Informationen: 01/317 61 65 * Hörfunk:Gedanken für den Tagüber Simone Weil anläßlich ihres 90. Geburtstags 1. bis 6. Februar, 6.57 Uhr, Ö1 Ort: Kath. Akademikerverband, 1090 Wien, Währinger Straße 2-4, Informationen: 01/317 61 65

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