Reiche bunkern sich vor Armen ab

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Die innerkirchlichen Streitigkeiten hält er für kleinkariert. Paulo Suess meint, Kirche müsse sich vielmehr "Die Armen zuerst!" auf die Fahnen heften.

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Die innerkirchlichen Streitigkeiten hält er für kleinkariert. Paulo Suess meint, Kirche müsse sich vielmehr "Die Armen zuerst!" auf die Fahnen heften.

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dieFurche: Der Weltmarkt bestimmt immer mehr die Lebens- und Überlebenschancen der Menschen in Nord und Süd. Diese Entwicklung wird vor allem von Experten aus dem Bereich der Entwicklungszusammenarbeit heftig kritisiert. Wo liegen für Sie die Chancen und Grenzen der Globalisierung des Marktes?

Paulo Suess: Das Problem der neoliberalen Globalisierung liegt für mich darin, daß der Markt zur Priorität erklärt wurde. Das ist eindeutig der falsche Weg, denn Priorität haben immer noch die Menschen. Der Weltmarkt, so wie ich diesen derzeit erlebe, produziert enorm viele Globalisierungsverlierer.

Menschen, die auf der Straße leben oder wie bei uns in Brasilien kein Land besitzen, sind nur zwei Gruppen, die sich auf der globalen Verliererstraße bewegen. Sie sind nicht nur von den materiellen Gütern ausgeschlossen, sondern auch von der Öffentlichkeit. Die privaten Nachrichtenkonzerne interessieren sich nicht für diese Verlierergruppen. Diese Menschen kommen einfach nicht mehr vor. Die Eigengesetze des Marktes walzen über sie hinweg. Sie sind von den technologischen Innovationen der Kommunikation ausgeschlossen. Das Problem liegt für mich somit nicht in der Globalisierung, sondern im neoliberalen Ausschluß, in einem weltweiten Verteilungskonflikt.

DieFurche: Das sind die negativen Auswüchse eines globalen Marktes. Können Sie vielleicht auch etwas über die Chancen dieser Entwicklung sagen?

Suess: Natürlich können wir innerhalb dieses Globalisierungsprozesses auch sehr viel lernen. Wir können unseren Blick weiten und den Versuch starten, aus der Provinzialität unseres Denkens heraus zu kommen. Eine andere Chance wäre das Leben in seiner Vielheit kennenzulernen und sich auszutauschen.

Im Prozeß der Globalisierung gibt es praktisch keine fernen Menschen mehr. Wir haben neue Nachbarn bekommen. Und so schön das auch klingen mag - hier sehe ich die Globalisierung bereits wieder kritisch. Denn diese neue Form der Nachbarschaft, etwa durch die modernen Formen der Kommunikation, hat sehr wenig mit Solidarität oder der Bereitschaft zum Teilen zu tun. Vielmehr habe ich das Gefühl, diese Nachbarschaft wird vielen Menschen zur peinlichen Berührung.

Ich denke hier beispielsweise an die Flüchtlingsbewegungen. Die Reichen bunkern sich vor den Armen ab. Statt Grenzsoldaten benötigt diese globale Weltgesellschaft immer mehr Soldaten, die die Reichen vor den Armen schützen. Statt einer globalen Weltgesellschaft, die nach menschlichen Wegen strebt, sehe ich vielerorts barbarischen Menschenhaß.

DieFurche: Die katholische Kirche ist eine weltumspannende Glaubensgemeinschaft. Wie sollte sich diese in allen Kontinenten der Erde präsente Kirche den Herausforderungen der Globalisierung stellen?

Suess: Es wird immer klarer, daß das 21. Jahrhundert ein autoritäres Jahrhundert sein wird. Diese Massen der Arbeitslosen und Ausgestoßenen werden nur mehr durch eine Art weltweites Polizeisystem in Schach gehalten werden können. Die Antwort auf diesen Autoritarismus, der schon längst begonnen hat, wäre eine dialogische Kirche.

DieFurche: Diese dialogische Kirche wird aber in den römischen Zentralstellen nicht unbedingt favorisiert.

Suess: Ich glaube trotzdem, daß die Kirche, in ihrer Vielfalt, bereits längst auf diesem Weg ist. Es gibt doch gar nicht diese eine Kirche oder diese eine Theologie. Es gibt eine Kirche mit vielen Gesichtern und Theologien.

Und ich bin zutiefst überzeugt, eine Kirche die Jesus nachfolgen will, kann nur eine Gemeinschaft sein, die eben gerade nicht autoritär agiert, eine Gemeinschaft, die im Dialog mit den Menschen steht, vor allem mit den Ausgeschlossenen.

DieFurche: ... und für die sogenannten Globalisierungsverlierer: Was unternimmt die Kirche für diese Menschen?

Suess: Den Entwurzelten, den Verlierern dieser Globalisierung, diesen Menschen muß die Kirche ihre Struktur zur Verfügung stellen und ihren Kampf gegen das Unrecht mittragen. Das hat schon längst begonnen. Denken wir an den Marsch der Landlosenbewegung nach Brasilia oder den Kampf der Indios, in Bolivien, gegen ein Gesetz, das sie ihres Landes berauben soll.

Bei diesen und vielen anderen Bewegungen war und ist die Kirche mit dabei. Nicht als Wortführer, sondern als Begleiter und Unterstützer. Ich meine, es geht darum, daß wir mit den Armen Kirche sind und nicht für die Armen.

DieFurche: Sie arbeiten in Sao Paulo als Professor für Missionswissenschaft. Was heißt für Sie Mission und Missionierung?

Suess: Mission in einem ehemals kolonialisierten Kontinent, das heißt für mich vor allem Entkolonialisierung. Das heißt, zu helfen, daß die Menschen ihre eigene Identitität entdecken. Es geht darum, das Wort Gottes in und mit der jeweiligen Kultur zu feiern, den Glauben in den Kulturen zu buchstabieren lernen. Es gilt als Vertreter der Kirche, wenn sie so wollen, als Missionar, einen Beitrag zu einer gerechteren Welt zu leisten. Von der Kirche erwarte ich mir, daß sie die Option für die Armen an die erste Stelle rückt.

Wir können als Kirche nur von den Armen lernen. So absurd es vielleicht klingen mag, wir können vom Reichtum der Armen lernen. Ein Reichtum jenseits von Materialismus und Neoliberalismus. Der Reichtum der Armen ist ein Reichtum mit Sprengkraft.

DieFurche: Sie sprechen von einer lernenden Kirche. Von einem ständigen kirchlichen Lernprozeß werden die Armen aber auch nicht satt.

Suess: Wir haben als Kirche keine Kompetenz, um in die großen wirtschaftlichen Mechanismen einzugreifen. Unsere Kompetenz liegt in der Begleitung von Menschen und Bewegungen.

Ich verweise nochmals auf die Bewegung der Landlosen. Diese Gruppierung ist aus dem Engagement der Kirche herausgewachsen und ist heute wohl die bestorganisierte Kraft in Brasilien. Aber Begleitung funktioniert nur über Dialog, über gemeinsames Lernen und intensives Hinhören.

DieFurche: Sie sind in Köln geboren, haben in Deutschland studiert und sind bald nach ihrer Priesterweihe nach Brasilien gegangen. Warum haben Sie sich nicht in Deutschland für eine gerechtere Welt engagiert?

Suess: Das soziale Elend in den Ländern des Südens hat mich als junger Mensch ergriffen. Ich dachte mir, da könnte ich als Priester gebraucht werden. Das Amazonasgebiet war vor 33 Jahren eine total abgeschiedene Gegend. Es gab so gut wie gar nichts.

DieFurche: Die Kirche von der Sie sprechen, ist vor allem eine Kirche der sozialen Präsenz. Die europäische Kirche scheint in innerkirchlichen Streitigkeiten zu versinken. Das soziale Engagement der "abendländischen Kirche" erscheint oft wie ein kirchlicher Zuckerguß.

Suess: Auf diese ewigen Zölibatsdiskussionen, oder ob Mädchen ministrieren dürfen oder nicht ... Auf solche Fragen lasse ich mich gar nicht ein. Das kommt mir so vor, wie der Streit, ob das Leichentuch von Turin echt oder nicht echt ist.

Ich halte das genauso für kleinkariert, wie diese innerkirchlichen Streitereien. Viele dieser Fragen sind zweitrangig. Die Kirche müßte sich auf die Fahnen schreiben: die Armen zuerst. Das Reich Gottes, das sind die Armen.

Das Gespräch führte Bernd Wachter.

Zur Person Schüler von J. B. Metz und Berater von Bischof Kräutler In "wissenschaftlicher" Hinsicht gehört Paulo Suess zu den Schülern des soeben 70 Jahre alt gewordenen deutschen Theologen Johann Baptist Metz. Vor Ort gilt er als einer jener Theologen und Priester, der sich der Sache der Armen verschrieben weiß - auch wenn zur Zeit die vorrangige Option der Kirche für die Armen ebenso wie die Befreiungstheologie "aus der Mode" gekommen scheint.

Paulo Suess wurde 1938 in Köln geboren und 1964 zum Priester geweiht. Anschließend war er acht Jahre lang als Pfarrer im brasilianischen Amazonasgebiet tätig. 1977 promovierte er bei J. B. Metz in Münster. Bereits zwei Jahre später wurde er zum Nationalsekretär des Indianer-Missionsrates der brasilianischen Bischofskonferenz gewählt. Paulo Suess war viele Jahre lang für den austrobrasilianischen Bischof Erwin Kräutler als theologischer Berater tätig und ist seit 1988 Professor für Missionswissenschaft in Sao Paulo. Bei der MISSIO-Studientagung 1998 in Innsbruck setzte er sich mit der Globalisierung aus theologischer Perspektive auseinander.

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