Relativität der Zeitgeschichte

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Gerhard Botz, Zeithistoriker an der Universität Wien, misst dem Gedenkjahr 2008 einige Bedeutung bei.

Die Furche: Herr Professor Botz, 70 Jahre "Anschluss": Welche Bedeutung messen Sie diesem Jahrestag heute bei?

Gerhard Botz: Es gibt zwei interessante Trends: Die Gedenkjahre mit der Zahl 8 sind in Österreich unglaublich dicht, aber es war unter Historikern lange die Meinung vorherrschend, über 1938 gibt es nichts mehr zu sagen. Die Zeitgeschichte konzentrierte sich auf 1918, 1968, vielleicht 1848 oder 1933, letztere auch halb vergessen. Merkwürdigerweise bricht nun ein viel größeres Interesse am "Anschluss" aus, als viele Zeitgeschichtler erwartet hätten. Das Interesse kommt aus dem Ausland: Allen voran das Projekt NachRichten (siehe Seite 23), das von einem britischen Verleger initiiert wurde. Das ZDF macht eine zweiteilige Dokumentation; was der ORF macht, wird man sehen. Es gibt einzelne kleinere Tagungen und auffällig wenig Buch-Publikationen.

Die Furche: Eines dieser wenigen neuen Bücher zu diesem Thema kommt von Ihnen: "Nationalsozialismus in Wien", das in Kürze als erweiterte Neuauflage Ihres Standardwerkes von 1978 erscheinen wird.

Botz: Dieser Mangel an Buch-Publikationen hängt mit der ursprünglich ablehnenden Haltung der Fachhistoriker gegenüber dem Jahr 1938 zusammen. Nun werde sie vom Medieninteresse überrollt.

Die Furche: Inwieweit unterscheidet sich die Diskussion heute von jener 1998, 1988 oder 1978 usw.?

Botz: Ich vernehme eine deutliche Tendenz zur Historisierung, die in dieser Form kaum jemand vorausgesehen hat und die ein bleibendes Ergebnis des Jahres 2008 sein wird: Dass man im März 2008 im Rahmen des NachRichten-Projekts NS-Propaganda-Material für ein breites Publikum veröffentlichen kann, ohne dass das als Nazi-Propaganda gelesen wird. Es ist jetzt möglich - mit dem heutigen Geschichtsbewusstsein und Demokratieverständnis - an Nazi-Terminologie, -Vorgänge und -Symbole heranzugehen, ohne dass das als Bestätigung der NS-Position verstanden wird. Vertreter dieser Position gibt es sicher auch noch, aber die alten NS-Nostalgiker scheinen in der Öffentlichkeit langsam weniger wichtig zu werden. Ein weiteres Beispiel: Die "Ostmark"-Wochenschau gibt es nun als DVD-Edition. Man kann also unveränderte Nazi-Filmdokumente anschauen, ohne dass jemand meint, man würde Propaganda betreiben.

Die Furche: Was bedeutet diese Tendenz für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus?

Botz: Vor 20, 30, oder 40 Jahren hat man als Historiker Aussagen zum Nationalsozialismus immer bewertet, um nicht missverstanden zu werden. Man sagte: "Verbrecherische Judenverfolgung", nun sagt man "Judenverfolgung". Das ist ein Zeichen einer Abnahme der Moralisierung hin zu einer Historisierung. Moralisierung ist dort notwendig, wo es keine politischen Werthaltungen gibt, die einigermaßen konsensual sind.

Die Furche: Das war anlässlich der Causa um den früheren Bundespräsidenten Kurt Waldheim noch nicht möglich?

Botz: Damals ist es darum gegangen, die Öffentlichkeit moralisch, politisch-ethisch zu sensibilisieren; daher mussten die Waldheim-Kritiker moralisieren, weil große Teile der Öffentlichkeit das Verhalten Waldheims während des Zweiten Weltkriegs im demokratischen und österreichischen Sinne nicht kritisch betrachtet haben: sie haben es aus der zeitgenössischen Sichtweise, im Weiterwirken dieser Sichtweise aus der Zeit vor 1945 interpretiert, daher war für viele nichts Problematisches daran, was Waldheim getan hat. Wir (damals jüngeren) Historiker haben gesagt: Das ist nicht selbstverständlich, was damals die Soldaten und Offiziere im Krieg gemacht haben. Solange das Herstellen von wertenden Relationen nicht geschehen ist, muss Zeitgeschichte politisch sein (aber nicht im Sinne von parteipolitisch). Wenn die demokratiepolitischen Selbstverständlichkeiten hergestellt sind, kann und muss sich die Zeitgeschichte von der politisierenden Ebene zurückziehen.

Die Furche: Birgt das nicht auch Gefahren in sich?

Botz: Die Historisierung setzt keine Verharmlosung oder Ent-Ethisierung der Geschichte in Gang, sondern setzt voraus, dass neue Maßstäbe existieren, die unserer Gesellschaft entsprechen. Natürlich gibt es Segmente, die im alten Denken bleiben, denen gegenüber wird man weiterhin moralisierend auftreten müssen. Das bezeichne ich als Relativitätstheorie der Zeitgeschichte.

Die Furche: Diese Relativierung bezieht sich auf die sprachliche Ebene. Ist aber auch der Opfer-Mythos bereits durchbrochen?

Botz: Das war Gegenstand der zeitgeschichtlichen Kontroversen der letzten 20 Jahren. Im Zuge der einsetzenden geschichtspolitischen Änderungen nach den Deklarationen von Ex-Bundeskanzler Franz Vranitzky, vom früheren Bundespräsidenten Thomas Klestil bis hin zu Erklärungen von Kardinal Christoph Schönborn und anderen gibt es nun einen überraschenden Wandel und Konsens, dass sich Österreich zur Mittäterschaft am NS-Regime bekennt.

Die Furche: Wie kam es Ihrer Meinung nach zu diesem Wandel?

Botz: Der politische Anpassungsdruck durch eine neue, globale Politik und die Einbindung in die Europäische Union haben dazu geführt, dass diese alte Opfer-Idee stark delegitimiert wurde. Das ist nicht unbedingt optimistisch in Bezug auf Geschichtsaufklärung: Wir Zeitgeschichtler haben leider nicht die Wirkung, die wir gerne hätten, das passierte langsam über Schulen und Medien. Zudem können wir eine merkwürdige List der Geschichte beobachten …

Die Furche: Was meinen Sie damit?

Botz: Dass ausgerechnet die rechtskonservative schwarzblaue Regierung unter Wolfgang Schüssel mehr in Richtung Vergangenheitsbewältigung bewirkt hat, als man gedacht hätte. Gerade die internationale Beobachtung Österreichs in dieser Zeit und die Diskussion im Ausland - verkürzt: Österreich als Hort der Nazis - sowie die Diskussion über Entschädigungen haben dazu beigetragen, dass die schwarzblaue Regierung Entschädigungszahlungen vorangetrieben und zum Teil wirklich gute Lösungen in diesen Fragen präsentiert hat: zum Beispiel die Zwangsarbeiterentschädigungen. Das war ganz anders als bei der Waldheim- Causa. Da herrschte das Meinungsklima vor: Wir sind wir, was das Ausland sagt, ist uns egal. Das hat sich geändert: Europa ist im Begriff, eine gemeinsame Geschichtskultur zu entwickeln, daher konnte sich Österreich nicht absondern, wenn es Teil Europas sein wollte.

Die Furche: Standen diese Maßnahmen nicht sehr unter dem Verdacht, Alibiaktionen zu sein?

Botz: Selbstverständlich. Aber wir können Menschen nur danach beurteilen, was sie tun und sagen; was sie denken, wissen wir nicht. Daher ist mir die Handlung und das Deklarierte lieber als das vermutet "Gedachte", das Deklarierte prägt dann die weitere Meinung und so die Politik.

Das Gespräch führte Regine Bogensberger.

NATIONALSOZIALISMUS IN WIEN

Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/1939 Von Gerhard Botz

Erweiterte Neuauflage des 1978 erschienenen Standardwerkes.

Mandelbaum Verlag, Wien 2008

ca. 730 Seiten, brosch., € 29,80

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