Symbolbild Splitter - Splitter, Scherben, Gewalt, Unglück - © Pixabay / moonlight99

Religiös motivierter Terrorismus: Für Allah sich und andere töten

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Im Kontext des Israel-Palästina-Konflikts ist das Selbstmordattentat "islamisch" geworden. Obwohl der Koran Selbstmord streng verbietet, zieht der islamisch-fundamentalistische Terror seine Kreise.

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Im Kontext des Israel-Palästina-Konflikts ist das Selbstmordattentat "islamisch" geworden. Obwohl der Koran Selbstmord streng verbietet, zieht der islamisch-fundamentalistische Terror seine Kreise.

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Die Frage ist nach den Al-Kaida-Anschlägen von London oft gestellt worden: Was bewegt einen jungen Menschen, sich in der U-Bahn in die Luft zu sprengen oder mit einem Flugzeug ins World Trade Center zu fliegen? Das Gefühl der Fremdheit und Ausgrenzung bei Menschen der zweiten und dritten Generation aus Einwandererfamilien ist gewiss ein Faktor. Aber jemand, der sich selbst als strenger Muslim versteht, braucht Argumente, die es ihm ermöglichen, das, was er tut, als gottgefällig zu begreifen.

Denn auf den ersten Blick ist der so genannte "islamische" Terrorismus äußerst unislamisch. Wie kann ein Selbstmordattentat gerechtfertigt werden, wenn der Koran den Selbstmord ausdrücklich verbietet? Wie lassen sich Attacken auf Zivilisten in New York oder London argumentieren, wenn im Koran bei jeder bewaffneten Auseinandersetzung die Schonung von Frauen, Kindern und alten Menschen streng geboten ist?

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Islamisten verurteilen Terror

Interessanterweise verurteilen gerade islamistische Organisationen, die selbst in Kampf-Auseinandersetzungen stehen und dabei auch Selbstmordattentate begehen, den Terror Marke Al Kaida vehement: die palästinensische Hamas und die schiitische Hisbollah im Libanon. Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah bezeichnet im orf-Exklusivinterview für die Dokumentation "Töten für Allah?" die Attentate von New York, Madrid und London, aber auch das tägliche Morden im Irak als verbrecherisch, terroristisch und "haram", streng verboten (vgl. tv-Tipp unten). Nasrallah begründet die eindeutige Ablehnung mit dem Argument aus dem Koran, die Zivilbevölkerung sei unbedingt zu schonen. Außerdem seien die Attentate in westlichen Städten eher geeignet, dem Islam zu schaden als ihm zu nützen.

Da ist einmal die Taktik des Selbstmordanschlages an sich. Die erste Operation dieser Art, ein Anschlag auf den Flughafen Tel Aviv-Lod 1972, wurde von Marxisten ausgeführt. Das Selbstmordattentat ist keine islamische Erfindung.

Nasrallah weiß genau wie die Funktionäre der Hamas, dass eine Ausweitung und Verlagerung des Dschihad oder religiös motivierten Kampfes gegen die israelische Besatzung von Palästina in europäische Städte äußerst kontraproduktiv wäre, weil es alle Chancen auf Unterstützung durch Sympathisanten im Westen zunichte machen würde (vgl. das Interview mit Sadik al-Azm). Nasrallah legt außerdem großen Wert auf die Feststellung, dass der Kampf der Hisbollah gegen die israelische Besatzung im Südlibanon koranischen Normen entsprochen habe. Die Hisbollah sei als islamische Widerstandsbewegung nach dem Einmarsch der Israelis im Südlibanon entstanden und habe einen rein defensiven Dschihad unter Schonung der Zivilbevölkerung geführt. Selbstmordattacken seien nur als Operationen zur Verfolgung hochrangiger militärischer Ziele in Frage gekommen.

Al Kaida ist der Hisbollah schon deshalb nicht sympathisch, weil die in Afghanistan aus Veteranen des Dschihad gegen die Sowjetunion entstandene Terrororganisation als Geschöpf des Westens gilt. Aber so sehr Hisbollah und Hamas eine rote Linie zwischen sich und Osama bin Laden ziehen, so sehr springt doch auch ins Auge, dass wesentliche Argumente der krausen Ideologie des Terrorpaten aus dem Kontext des Nahostkonflikts entlehnt sind.

Keine islamische Erfindung

Da ist einmal die Taktik des Selbstmordanschlages an sich. Die erste Operation dieser Art, ein Anschlag auf den Flughafen Tel Aviv-Lod 1972, wurde von Marxisten ausgeführt. Das Selbstmordattentat ist keine islamische Erfindung. Im Gegenteil: Als zunächst die schiitische Hisbollah, dann die sunnitische Hamas und andere Intifada-Kämpfer begannen, Selbstmordanschläge auszuführen, waren zunächst heftige Proteste und Diskussionen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft die Folge. Denn das Selbstmordverbot im Koran ist klar und eindeutig.

Der argumentative Ausweg bestand darin, dass man begann, den Ausdruck "Selbstmord" zu vermeiden und stattdessen von "Selbstaufopferung für eine noble Sache" sprach. Hassan Yousif von der Hamas in Ramallah nimmt genau darauf Bezug. Der Selbstmord aus psychischen Gründen werde nach wie vor abgelehnt, die jungen Leute, die sich als lebende Bomben für Selbstaufopferungs-Operationen zur Verfügung stellen, seien aber nicht lebensmüde, sondern würden ihre Mission bewusst und aus freien Stücken antreten. Diese kleine semantische Finesse ist von nicht geringer Bedeutung. Denn sie ermöglicht es Selbstmordattentätern, als Märtyrer, "Schahid" anerkannt zu werden und alle Freuden der unmittelbaren Aufnahme in den Himmel zu erwarten - eine wichtige Motivation für die meist jungen Attentäter.

Israelis sind keine Zivilisten

Noch folgenschwerer ist ein anderes Argument: Während etwa Hisbollah-Chef Nasrallah im Hinblick auf New York, London oder den Irak die unbedingte Schonung von Zivilisten einmahnt, hat sich im Hinblick auf Israel eine Ausnahme von der Regel etabliert. Ja, argumentiert Nasrallah mit vielen anderen, auch in Israel seien Frauen und Kinder so gut wie möglich zu schonen, aber die israelische Gesellschaft sei durch und durch militarisiert, jeder Erwachsene ein Reservist der Armee. Die Unterscheidung von Soldaten und Zivilisten sei daher in Israel nicht eindeutig.

Mit diesem Argument, das in der muslimischen Welt weit verbreitet ist, werden die Attacken von Palästinensern auf weiche Ziele wie Autobusse oder Diskotheken mitten in Israel gerechtfertigt. Der im Islam geforderte unbedingte Schutz der Zivilbevölkerung im Dschihad wird damit obsolet. Der Wiener Imam der Schura-Moschee, Scheich Adnan Ibrahim, der selbst aus Gaza stammt, kritisiert diese Entwicklung heftig. Diese Argumentation sei gefährlich, sagt er, denn so werde "Illegitimes legitimiert". Auch wenn Besatzungssoldaten Zivilisten töten, sei das kein Argument, es ihnen gleich zu tun.

Im Bemühen, selbst zu definieren, wer ein Zivilist ist und wer nicht, wird das alte "Israel-Argument" in neuer Form deutlich. Das war 1998. Der Weg zum 11. September wurde damit argumentativ geebnet.

Freilich, eine akademische Debatte auf Kosten der Leidtragenden im unsagbar traurigen Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern führt nicht weiter. Tatsache aber bleibt: Im Kontext dieser Auseinandersetzung ist das Selbstmordattentat islamisch geworden - und die Grenze zwischen Kombattanten und Zivilisten beliebig. Der Zorn hat sein Argument gefunden. Und bald darauf fand das Argument neue Zornige.

"Geistliche" Terror-Anleitung

Als sich Al Kaida in das Bewusstsein der Öffentlichkeit bombte, war das Selbstmordattentat als muslimischer Ausdruck des Widerstands bereits etabliert. In einer von vielen islamischen Gelehrten kopfschüttelnd zur Kenntnis genommenen "Fatwa" sprach Osama bin Laden den Amerikanern den Status von Zivilisten rundweg ab. Die Begründung: Als Steuerzahler unterstützten sie eine Armee, die Opfer unter der muslimischen Zivilbevölkerung zu verantworten habe. So abstrus die Argumentation sein mag: Im Bemühen, selbst zu definieren, wer ein Zivilist ist und wer nicht, wird das alte "Israel-Argument" in neuer Form deutlich. Das war 1998. Der Weg zum 11. September wurde damit argumentativ geebnet.

Fromme Fanatiker mussten für einen Terroranschlag ihre Prinzipien nicht über Bord werfen. In der "Geistlichen Anleitung" für den 11. September, die beim Anführer des Terrorkommandos, Mohammed Atta, gefunden wurde, steht der schlichte Satz: "Du führst eine Tat aus, die Gott gefällt und die er gutheißt."

Der Autor ist Religionsjournalist beim orf-Fernsehen.

Fernsehen

"Kreuz & Quer": Töten für Allah? - Religiöse Gründe des Terrorismus

Ein Film von Christian Rathner.
Die in obigem Furche-Fokus zitierten Experten und Betroffenen nehmen in dieser "Kreuz & Quer"-Dokumentation zum Verhältnis von Islam und Gewalt Stellung. Außerdem spricht Aisha El Wafi, die Mutter des Marokko-Franzosen Zacarias Moussaoui, über den Werdegang ihres Sohnes: Moussaoui gilt als der 20. Todespilot des 11. September, er wurde allerdings schon vor den Attentaten verhaftet.
Dienstag, 6. September, 22.30, ORF 2

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