Als Auswirkung des Islamismus verstärken sich in beiden christlichen Kirchen Tendenzen der Abgrenzung von den Muslimen. Als Jude befremdet mich das. Wer als Jude jüngste christliche Aussagen zum Islam liest, beginnt am Ertrag des jüdisch-christlichen Gesprächs zu zweifeln. Denn Judentum und Islam sind eng miteinander verwandt, teilen grundlegende Glaubenseinsichten und Normen und bekennen den einen Gott.
Was Juden und Christen heute einander so nahe bringt, ist die gemeinsame Erfahrung der Aufklärung mit ihrem Primat von Rationalismus und Vernunft. Alle Religionen, auch das Christentum, hatten an den Herausforderungen der Moderne zu kauen, und manches ist bis heute unverdaut. Die Vereinbarkeit von Religion und Moderne entscheidet sich besonders an hermeneutischen Grundfragen: Im Schrift-und Traditionsverständnis werden die Weichen gestellt für Dialogfähigkeit und Wandelbarkeit von Religion. So mussten sich Judentum wie Christentum schon im 19. Jahrhundert fragen, ob sie eine historisch-kritische Betrachtung von heiligen Schriften und Tradition zulassen.
Das europäische Judentum hat durch die Aufklärung eine Chance erhalten, sich am gesellschaftlichen Diskurs zu beteiligen. Das bedeutete auch die kulturelle wie rechtliche Emanzipation und die Ausformung einer widerstandsfähigen Identität. Erforderlich war die Neubewertung unserer jüdischen Traditionen und Lehren. Die Teilhabe an einer pluralen Gesellschaft lässt eben keinen unverändert.
Vielleicht können wir Juden dem Islam in Europa mit unseren Erfahrungen zeigen, wie man der Tradition gerecht wird und dennoch mit der Moderne zurechtkommt. Deutschland könnte von der Erfahrung Österreichs mit einem Euro-Islam lernen, der noch in der Donaumonarchie geprägt wurde und von Sarajewo bis Wien lebendige Beispiele zeigt.
Der Autor leitet das Europäische Rabbinerseminar in Potsdam.
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