Mystik

Renaissance der Mystik: Den Lärm ausblenden

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Das Interesse an Mystik scheint mit der Sehnsucht nach Ruhe einherzugehen. Über eine besondere Form der Selbstkultivierung und ihre (historische) Rolle in der Theologie.

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Das Interesse an Mystik scheint mit der Sehnsucht nach Ruhe einherzugehen. Über eine besondere Form der Selbstkultivierung und ihre (historische) Rolle in der Theologie.

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Endlich Ruhe finden – dieses Bedürfnis haben gar nicht so wenige Zeitgenossen. Manche gehen deswegen zu Meditations- und Kontemplationsretreats oder sie ziehen sich für einige Zeit ins Kloster zurück. Ruhe zu finden, ist ein Luxusgut geworden, denn Lärm ist allgegenwärtig– nicht nur der Lärm von Verbrennungsmotoren oder Ghettoblastern, auch der optische Lärm der elektronischen Medien breitet sich wie Schimmel über das Wahrnehmungsvermögen aus.

Um zur Ruhe zu kommen, müsste man aus dem Hamsterrad mindestens für einige Atemzüge aussteigen. Vielleicht hat auch das große Interesse an Mystik damit zu tun – denn ein Versprechen von Spiritualität und Mystik ist, den Lärm der Welt hinter sich zu lassen und endlich Frieden und Ruhe zu finden. Doch folgt man den Lebensläufen der Mystikerinnen und Mystiker, dann waren deren Tage keineswegs geruhsame Aufenthalte in gepflegten Klostergärten. Viele waren sehr aktive Menschen – so hat Teresa von Avila etwa im Laufe von rund zwanzig Jahren siebzehn Klöster gegründet und auch immer wieder besucht. Angesichts der damaligen Verkehrsmittel und Straßen eine enorme Bilanz, noch dazu für eine Frau.

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Sie – wie so viele andere Mystiker und vor allem Mystikerinnen – musste sich immer wieder vor kirchlichen Instanzen rechtfertigen. Denn das „Gebet der Ruhe“, das sie lehrte, das auch bei Menschen außerhalb der Klöster großen Anklang fand, war der Inquisition verdächtig, weist die Übung doch über die Grenzen kontrollierbarer dogmatischer Sätze hinaus. Dass es um persönliche, existenzielle Erfahrung geht, macht die Schriften der Mystikerinnen und Mystiker für Heutige interessant. Andererseits wird Mystik nicht nur in Institutionen der römisch-katholischen Kirche, auch in den protestantischen Kirchen ambivalent gesehen.

Dass über Transzendenz – um damit auch vom Wissen um die Begrenztheit allen Wissens – zu sprechen, heute nahezu ein Tabu ist, hängt mit dieser Geschichte zusammen.

Diese Geschichte der Ambivalenzen und Ausgrenzungsstrategien, denen Mystiker und vor allem Mystikerinnen ab dem Mittelalter ausgesetzt waren, beschreibt der Kirchenhistoriker und Mittelalterspezialist Volker Leppin in seiner eben erschienenen Geschichte der christlichen Mystik „Ruhen in Gott“ (C. H. Beck). War für die Wüstenväter und die frühe Mönchsbewegung – etwa Johannes Cassian (viertes/fünftes Jahrhundert) – Meditation, wortloses Gebet selbstverständliche Praxis und die Erfahrung Gottes selbstverständlich anzustreben, so änderte sich dies im Laufe des Mittelalters.

Doch galten „mystische Theologie“ und ein Bewusstsein, dass alle Aussagen über Gott eher nicht zutreffen als zutreffen (negative Theologie), bis in die Neuzeit als legitime Form der Theologie. Mystik als Hauptwort gibt es erst spät, ab dem 17. Jahrhundert, also ab der Zeit der Religionskriege, der Katechismen und der beginnenden Aufklärung. Der mystische Theologe wird nun zum Mystiker, und das Wort „Mystik“ oder auch „Mystizismus“ allmählich zum Schimpfwort. Das „Gebet der Ruhe“ wird gegen Ende des 17. Jahrhunderts in der römisch-katholischen Kirche unter Papst Innozenz XI. als „Quietismus“ de facto verboten, und damit verschwindet eine wichtige Form der Selbstkultivierung aus dem gesellschaftlichen Repertoire.

Dass über Transzendenz – und damit auch vom Wissen um die Begrenztheit allen Wissens – zu sprechen, heute nahezu ein Tabu ist, hängt mit dieser Geschichte zusammen.

Meditationspraktiken versus Transzendenzerfahrungen

Leppins Fragen betreffen Meditationspraktiken nahezu kaum: Ihn interessiert, wie die Transzendenzerfahrungen verschriftlicht und reflektiert wurden. Das ist allerdings auch die einzige Möglichkeit, sich diesen Erfahrungen zu nähern – denn Transzendenzerfahrungen, welcher Art auch immer, sind nicht beobachtbar, sondern nur medial zu vermitteln, wie schon der Soziologe Alfred Schütz feststellte.

Wie wesentlich die Mystik als Denkform für das Spätmittelalter war, hat Leppin bereits in „Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln“ (2016) beschrieben. Luther war bestens mit den spätmittelalterlichen Frömmigkeitstraditionen bekannt, und wie Leppin zeigt, findet sich bei Luthers Lehrer, dem Theologen Johannes von Staupitz, bereits die Matrix vieler Formulierungen, die später als typisch reformatorisch gelten. Kleiner Österreich-Bezug: Staupitz war 1522–1524 Abt des Erzstifts St. Peter in Salzburg. Doch war Luther deshalb Mystiker? Das lässt sich schwer beantworten, denn „mystische Theologie“ war nicht das, was man heute unter Mystik versteht und in Kontrast und Gegensatz zu Rationalität setzt.

War Luther Mystiker?

Ein weiteres Problem: Die begriffliche Bestimmung von „mystischer Erfahrung“ ist schwierig, da Mystik ja erst durch die Ausgrenzung aus der Theologie zu einer eigenen Kategorie wurde und zweitens der Begriff „Erfahrung“ seit Längerem auch an naturwissenschaftlichen Konzepten orientiert ist. Dazu kommt aber auch, dass höchst Unterschiedliches damit bezeichnet wird. Meister Eckharts Predigten – die sich an die Ungelernten, das Laienpublikum seiner Zeit wenden, jedoch philosophisch anspruchsvoll sind – genauso wie die Visionen der mittelalterlichen Frauenmystik etwa von Mechthild von Magdeburg oder noch anders Hildegard von Bingen fallen darunter, aber auch die Schriften Jakob Böhmes, die aus der protestantischen Tradition schöpfen und sich auf die Natur und ihre spirituelle Deutung beziehen usw.

Wenn es um diese Vielfalt geht, bietet Leppins Buch einen großartigen Überblick, der auch die Ostkirche mit einbezieht, ebenso die Entwicklungen in Nordamerika, und auch nicht verschweigt, dass die Wiederentdeckung des Meister Eckhart ab dem 19. Jahrhundert unter völkischen und nationalistischen Vorzeichen geschah.

Christliche Bildungshäuser

Die Mystikrenaissance der letzten Jahrzehnte wurde sehr stark durch das breite Interesse an asiatischen Meditationspraktiken befördert. Leppin erwähnt dies nicht, doch kommt der Jesuit und Zen-Lehrer Hugo M. Enomiya-Lassalle, der grundlegend zur Wiederbesinnung auf Meditationspraxis und Mystik im Christentum beigetragen hat, immerhin im letzten Absatz des Buches vor. Doch es ist sein Verdienst, dass heute in nahezu jedem christlichen Bildungshaus Meditations- und Kontemplationskurse irgendwelcher Art zu finden sind. Der Prototyp der sogenannten Meditationsschemel geht auf ihn zurück: Er schickte dieses Sitzmöbel, das japanische Zen-Meister für Laienschüler entwickelt hatten, 1962 an einen hilfesuchenden Deutschen, der ihn der Meditation wegen kontaktiert hatte. In dem Mystikkurs „wesentlich Leben“, der ab Jänner 2022 in St. Bernhard (Wiener Neustadt) und Eisenstadt stattfindet, werden diese Schemel sicher zum Einsatz kommen, geht es doch um Theorie und persönliche Praxis.

Näheres hier: www.st-bernhard.at/downloads/ wesentlich_leben.pdf

RuheninGott

Ruhen in Gott

Eine Geschichte der christlichen Mystik
Von Volker Leppin
C. H. Beck 2021
476 S.,
geb., € 32,90

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