Rettende Gnade Gottes als Erzieherin

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Niemand ist ausgeschlossen, verheißt die Weihnachtsbotschaft - weder Österreicher, Amerikaner, Serben, Nigerianer, noch Verbrecher, Häretiker, Behinderte, Aidskranke, Homosexuelle ...: Das Heil ist für alle da.

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Niemand ist ausgeschlossen, verheißt die Weihnachtsbotschaft - weder Österreicher, Amerikaner, Serben, Nigerianer, noch Verbrecher, Häretiker, Behinderte, Aidskranke, Homosexuelle ...: Das Heil ist für alle da.

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Denn die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten. Sie erzieht uns dazu, uns von der Gottlosigkeit und den irdischen Begierden loszusagen und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt zu leben, während wir auf die selige Erfüllung unserer Hoffnung warten: auf das Erscheinen der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Retters Christus Jesus. Er hat sich für uns hingegeben, um uns von unserer Schuld zu erlösen und sich ein reines Volk zu schaffen, das ihm als sein besonderes Eigentum gehört und voll Eifer danach strebt, das Gute zu tun. Tit 2,11-14 Weihnachtsbräuche helfen zum Feiern. Weihnachtsbräuche können aber auch den Zugang zum Kern des Weihnachsfestes verbauen. So kann es auch vielen mit dem Hören des Weihnachtsevangeliums nach Lukas gehen. Es ist ein berührender Text, aber viele werden ihn nicht mehr richtig hören, weil er überlagert ist von den vielen Bildern und verschiedensten Weihnachtsbräuchen. Sentimentale Gefühle können wach werden und Weihnachten als Familienidylle die aufregende Herausforderung des Evangeliums verdecken. Ich habe deshalb für die Weihnachtsbetrachtung in der furche die - oben abgedruckte - Epistellesung für den 24. Dezember ausgewählt.

Wie unterschiedlich sonst die Leseordnungen der verschiedenen kirchlichen Traditionen sein mögen, die Lesung aus Jesaja 9, aus dem Lukasevangelium, Kapitel 2 und der Episteltext aus dem Brief an Titus gehören zum Heiligen Abend. Viele werden es nicht wissen, dass die Leseordnung der römisch-katholischen Kirche und die der evangelisch-methodistischen Kirche weitgehend übereinstimmen. Das 2. Vatikanische Konzil hat mit seiner Liturgiereform einen weltweiten Anstoß zur liturgischen Erneuerung gegeben. In den USA haben Katholiken, Anglikaner, Lutheraner, Reformierte und Methodisten gemeinsam an Leseordnungen gearbeitet.

Die Leseordnung der evangelisch-methodistischen Kirche ist aus den ökumenischen Beratungen herausgewachsen, die zwischen 1967 und 1975 stattgefunden haben. Seit 1975 wird diese Leseordnung in der evangelisch-methodistischen Kirche verwendet. Sie hat sich rasch eingebürgert, auch in Österreich. Unterschiede zeigen sich manchmal bei der Abgrenzung von Texten und in der Auswahl alttestamentlicher Lesungen, weil die evangelisch-methodistische Kirche die spätkanonischen Schriften für die Lesung im Gottesdienst nicht berücksichtigt. Dass methodistische und römisch-katholische Christen an den Sonntagen die gleichen Lesungen hören und bedenken werden, ist von nicht geringer ökumenischer Bedeutung!

Die Gnade ist ein Geschenk Der Episteltext zeigt die Konsequenzen des Handelns Gottes, das das Lukasevangelium in einer epischer Breite erzählt. Den Kern des Weihnachtsevangeliums fasst der Apostel in einem Satz zusammen: "Denn die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten." Luther übersetzt es poetischer und offener: "Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen." Der Retter für alle ist geboren. Weihnachten als öffentliche Heilsproklamation! Der öffentliche und weltumspannende Aspekt des Handelns Gottes kann gar nicht stark genug unterstrichen werden. Niemand ist ausgeschlossen.

Das müsste jetzt mit konkreten Namen buchstabiert werden, damit die allgemein gefasste Aussage nicht banal klingt: keine Österreicher, Amerikaner, Serben, Chinesen, Russen, Nigerianer und so weiter, keine Verbrecher, keine Mafiosi, keine Homosexuellen, keine Aidskranken, keine Behinderten, keine Kranken, keine Alten und Gebrechlichen, keine Häretiker, keine Ketzer und so weiter: Das Heil ist sichtbar und für alle da.

Kein menschliches Leben kann ohne Gnade bestehen. Sie ist ein Geschenk. Menschen können es nicht schaffen oder produzieren. Jeder kann sich der Gnade Gottes öffnen oder sich ihr verschließen. Beides geschieht in unserer Welt. Diese Gnade Gottes zu verkündigen und als Begnadete zu leben, das ist Auftrag der Kirche(n) und aller Christen.

Alle bedürfender Erziehung Gottes Nach dieser allgemeinen und grundlegenden Feststellung wendet sich der Apostel den Christen zu, den Menschen also, die sind, was sie sind, weil sie sich zustimmend der Gnade Gottes geöffnet haben: gerechtfertigt durch den Glauben (Röm 5,1), gereinigt durch das Blut Christi von aller Schuld (1 Joh 1,7); errettet aus der Macht der Finsternis und versetzt in das Reich seines lieben Sohnes (Kol 1,13). So beschreiben die Evangelisten und Apostel diese erstaunliche Verwandlung, die Gottes Gnade bewirkt.

Der Apostel schließt sich mit Christen und Christinnen zusammen, indem er "uns" sagt. "Die Gnade erzieht uns ..." Auch dies ist eine grundsätzliche Aussage, die keinen Getauften auslässt oder ausschließt. Es wird kein Unterschied zwischen Laien und Amtsträgern angedeutet, so als hätten die einen das erziehende Handeln der göttlichen Gnade nötig und die anderen nicht. Alle bedürfen des gnädigen Erziehungshandelns Gottes, solange sie leben. Die Frage ist nur, ob wir uns das erzieherische Handeln Gottes gefallen lassen. Manche laufen Gott aus der Schule. Sie tun das immer zu ihrem eigenen Schaden. Wir können hier festhalten: Getaufte Menschen treten in eine Beziehung mit Gott ein, die nicht einfach offen, unverbindlich und neutral ist. Gottes Gnade will etwas bei uns bewirken und erwartet etwas von uns. Von der göttlichen Gnade als Erzieherin zu reden ist recht ungewöhnlich. Aber genau das sagt der Apostel an dieser Stelle. Luther hat übersetzt: "Die Gnade nimmt uns in Zucht."

Das klingt in heutigen Ohren fremd, hält aber etwas fest, das damals zum erzieherischen Handeln gehörte. Hier aber ist keine Rede von Züchtigungsmaßnahmen, sondern von klaren Erwartungen. Was die Erzieherin Gnade bei den Christen bewirken will, sind drei grundlegende Veränderungen:n klare Distanzierung von Erfahrungen und Lebenshaltungen der Vergangenheit,n eine eindeutige und klare Lebensführung, die von der Beziehung mit Gott bestimmt ist, und n eine Haltung der Erwartung im Blick auf die Zukunft Gottes. Was kann das für uns bedeuten?

Distanz zu früheren Fehlhaltungen "Wir sollen uns von der Gottlosigkeit und den irdischen Begierden lossagen ..." Das ist keine psychologische Überlegung, sondern eine geistliche Erwartung. Wo ein Mensch Gottloses in seinem/ihrem Leben entdeckt, gilt es, davon Abstand zu nehmen, und zwar in klarer und eindeutiger Weise. Wer sich mit Gott verbunden hat, kann nicht einfach in "Gottlosigkeit" in ihren vielen Formen weitermachen. Was mit dem Wort "Gottlosigkeit" angedeutet wird, hat es nicht zuerst mit rituellen oder liturgischen Handlungen zu tun, sondern mit Lüge und mit Lieblosigkeit.

Gott aber ist Wahrheit und Liebe. So kann der Apostel an einer anderen Stelle sagen: "Darum leget die Lüge ab und redet die Wahrheit." (Eph 4,25) Lüge kommt in so vielen Variationen im menschlichen Leben vor, nicht nur bei Politikern, Lüge ist auch in der Kirche zu Hause. Gelogen wird ja oft mit Rücksicht auf die Familie, die Herkunft, die Bildungskarriere oder was immer. Gerade mit frommen Worten wird oft am meisten gelogen. Und dass das "rücksichtsvolle" Lügen, weil gesellschaftlich durchaus akzeptiert, oft nicht als schlimm angesehen wird, ist das Schlimmste.

Hier zieht unser Text eine klare Grenze. Ob es immer gelingt, diese Grenze einzuhalten, ist eine andere Frage. Aber der Wille ist angesprochen, klar auf Distanz zu gehen. Und wenn der Wille da ist, verändert sich etwas, und dann können auch Rückfälle ausgesprochen, vergeben und bereinigt werden.

Gottlosigkeit zeigt sich auch in einer Haltung selektiver Liebe. Der Mensch will allein bestimmen, wer zu lieben ist und wer nicht. Gott aber liebt alle Menschen. Absage an eine solche Haltung "selektiver Liebe" hat der Ökumenische Rat der Kirchen in Österreich in seinen "Fragen zur politischen Verantwortung" formuliert, wo es heißt: "Gegenüber Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus ist Toleranz nicht möglich."

So reizvoll es wäre, die Absage an die "irdischen Begierden" mit praktischen Beispielen zu illustrieren, dürfte es ausreichen, mit John Wesley zu formulieren: Irdische Begierden (Luther: weltliche Lüste) - das ist alles, was im Gegensatz zu Besonnenheit und Gerechtigkeit steht!

Eine eindeutige Lebensführung "Besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt zu leben" - Christliches Leben kann sich nie im "Nein" verwirklichen. Immer steht dem Nein zu bestimmten Dingen und Verhaltensweisen ein klares und positives Ja gegenüber. Mit äußerster Knappheit wird vom Apostel mit drei Begriffen christliche Existenz beschrieben. Aber die Begriffe werden nicht als Hauptworte eingeführt. Hauptworte verführen zu leicht zum Nachdenken über das Wesen und Sein von Dingen.

Attribute werden genannt, die die Qualität des Lebensvollzuges andeuten und uns so zum entsprechenden Handeln anleiten wollen. Christsein besteht nicht in erster Linie im Nachdenken, sondern in gehorsamem Tun. Jesus sagt: "Tue das, so wirst du leben!" (Lk 10, 28) "Besonnen" - damit öffnet sich ein weites Feld menschlichen Handelns, das aber immer bestimmt ist von Nüchternheit.

Die englische Revised Standard Version übersetzt das mit "self-controlled". John Wesley, der Gründer der methodistischen Kirche, hat den griechischen Begriff mit "sober" - nüchtern - wiedergegeben. Er merkt dazu an: "Damit sind nicht einzelne Tugenden des Menschen im Blick, sondern seine ganze charakterliche Verfassung. Es fasst alles zusammen, was im Gegensatz steht zur Schlaftrunkenheit der Sünde, der Narrheit der Unwissenheit, der Unheiligkeit ungeordneter Leidenschaften. Nüchternheit ist nichts anderes als die ständige und gesammelte Wachsamkeit aller Seelenkräfte, regiert von himmlischer Klugheit und in Übereinstimmung mit heiligen Neigungen."

"Gerecht" handelt der Christ, das heißt nichts anderes als alle so zu behandeln, wie man selber von ihnen behandelt werden möchte. Das entspricht der goldenen Regel Jesu: "Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!" (Mt 7,12) "Fromm" lebt und handelt der Christ. Luther übersetzt das griechische Wort mit "gottselig". Ganz sicher ist damit nicht ritualisierte Frömmigkeit gemeint, bei der man das Schlagen des Herzens nicht mehr hört. Es geht um die bewusst gesuchte Nähe zu Gott. Es ist Leben in der Gegenwart Gottes. Fromme sind solche, "die ganz Gott geweiht sind, sowohl im Herzen als auch mit ihrem ganzen Leben" (John Wesley).

Und nun dies alles: besonnen, gerecht und fromm zu leben - in dieser Welt! Nicht in mönchischer Abgeschiedenheit, sondern mitten im Trubel des politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Geschehens. Da gehören Christen hin!

Im Blick auf die Zukunft "Auf die selige Erfüllung unserer Hoffnung warten." - Wir warten auf die Erscheinung der Herrlichkeit Gottes und unseres Herrn Jesus Christus. Und hier wird sichtbar, dass christliches Leben kein Programm der Selbstverwirklichung ist, sondern ein sich Öffnen für Gottes Wirken. Wir warten auf den, der bereits ständig an uns arbeitet, der uns durch seine Anwesenheit im Heiligen Geist hilft, besonnen, gerecht und fromm zu leben. Warten in Hoffnung ist kein Aussteigen aus der Wirklichkeit. Wer in Hoffnung wartet, erhält die Fähigkeit, die Not und die Verzweiflung rundherum genauer zu sehen und sich ihr zu stellen und die Kraft, sie öffentlich zu benennen.

Um es mit Worten des Auschwitzüberlebenden Elie Wiesel zu zeichnen: "Wer hofft, sieht hin! Das Gegenteil von Hoffnung ist nicht Verzweiflung, es ist Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal des Nächsten, gegenüber dem Leidenden, dem Schwachen, überlässt das Opfer der Einsamkeit und dem Vergessen. Es ist wahr, wir sind zu hilflos, um den Hunger auszutilgen; aber wenn wir einem einzigen Kind zu essen geben, protestieren wir gegen den Hunger. Wer hofft, sieht hin!"

Oder wie der Episteltext, der hier ausgelegt wurde, ausklingt: Christen, die gelernt haben, sich klar von Fehlhaltungen abzugrenzen, die besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt leben und auf die Erscheinung des Herrn Jesus in Hoffnung warten sind "voll Eifer bestrebt, das Gute zu tun" (Tit 2,14).

Weihnachten, das Kind in der Krippe ist ein Anfang. Der Apostel zeigt uns mahnend und aufmunternd, wie Weihnachten bei uns und mit uns weitergehen soll - mit Gottes Hilfe.

Der Autor ist Superintendent der Methodistenkirche in Österreich.

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