RITUAL oder Tradition?

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Viele Menschen werden gerade zu Weihnachten "Traditionalisten". Aber nicht alle Gebräuche rund ums Fest sind auch Rituale.

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Viele Menschen werden gerade zu Weihnachten "Traditionalisten". Aber nicht alle Gebräuche rund ums Fest sind auch Rituale.

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Alle Jahre wieder das gleiche Schauspiel: Die Wohnungen werden geputzt und mit Reisig, Sternen und Kerzen geschmückt, manchmal wird auch ein Christbaum aufgestellt. In der Luft hängt der Duft von Keksen, Kerzenwachs und Glühweingewürz. Geschenke werden besorgt und mehr oder weniger gut versteckt. Weihnachtskarten werden geschrieben. Kurz gesagt: Alle Jahre wieder bereitet man sich auf Weihnachten vor.

Weihnachten ist vermutlich das Fest, das am stärksten durch Traditionen geprägt ist. Die Verbindung von Weihnachten und Tradition wird besonders deutlich, wenn das Fest nicht mehr gefeiert werden kann wie bisher. Vielleicht weil jemand nicht mehr da ist, der immer mitgefeiert hat oder weil erstmals eine Person mitfeiert, die eigene Vorstellungen und Traditionen mitbringt. Selbst viele Menschen, die in ihrem alltäglichen Leben sehr bewusst mit der sich ständig verändernden Zeit gehen, werden an Weihnachten in gewissem Sinn zu "Traditionalisten", die sich nach dem Vertrauten sehnen: "Same procedure as every year."

Same procedure as every year

Dabei gilt es zwischen Traditionen auf der einen und Ritualen auf der anderen Seite zu unterscheiden: Traditionen, wie sie hier verstanden werden, sind Verhaltensweisen, die anlässlich einer bestimmten Situation und in einer konkreten Gruppe üblich sind. Sie sind Zeichen einer bestimmten Familienoder Gruppenkultur. Rituale hingegen sind symbolisch aufgeladene Handlungen, deren Sinn über das konkrete Tun hinausweisen. Ein Beispiel, um diesen Unterschied zu verdeutlichen: Die übliche Speise am Heiligen Abend - seien es die Gans, der Karpfen, die Frankfurter - ist eine Tradition. In gleicher Weise gehört auch das Singen der immer gleichen Lieder zu den Traditionen. Das Verteilen von Glückwünschen und Geschenken - zumindest insofern damit Verbundenheit ausgedrückt wird - kann zu den Ritualen gezählt werden. Es geht dabei nämlich um etwas anderes als das bloße Austauschen von Waren, es bringt Beziehung zum Ausdruck.

Die hier vorgenommene Zuteilung ist natürlich keine starre; sie kann sich je nach Situation und Hintergrund auch verschieben: Wenn das Schenken offensichtlich keinen tieferen Grund hat und nicht der Ausdruck von Zuneigung und Sympathie ist, dann ist es wohl eher zu den Traditionen als zu den Ritualen zu zählen. Wenn hingegen ein Lied deutlichen Gebetscharakter hat, so ist es vermutlich mehr Ritual als Tradition.

Der Charakter kann sich auch mit der Zeit verändern: Nur weil etwas einmal ein Ritual war, muss es nicht notwendigerweise immer eines bleiben. Wird der dahinter stehende zentrale Gedanke nicht mehr verstanden, wird das Ritual leicht zu einer Tradition. Für viele ist in diesem Sinn etwa der Gang zur Christmette mehr Tradition als Ritual. Aber auch die gegenteilige Entwicklung ist denkbar: Eine Tradition, die mit Sinn aufgeladen wird und eine transzendente Dimension erhält, kann sich zum Ritual entwickeln. Hat jemand zu Weihnachten immer einen bestimmten Film - etwa "3 Haselnüsse für Aschenbrödel" - mit einer bestimmten Person angeschaut und tut das nun weiterhin zum Andenken, nachdem diese Person verstorben ist, so kann dies durchaus als ein Ritual gesehen werden.

Das "Mehr" im Ritual

Rituelles Handeln zeichnet sich durch Transzendenzbezug aus, das heißt durch den Verweis auf etwas, das sinnlich nicht fassbar ist. Durch das Ritual wird dieses "Mehr" zum Ausdruck gebracht und ins konkrete Dasein geholt. Das muss nicht immer gleich Gott oder eine übernatürliche Macht sein, es kann sich auch um Gefühle, Ideen, nicht anwesende Menschen usw. handeln. Diese Fähigkeit sich auf etwas zu beziehen, das sinnlich nicht erfasst werden kann, Transzendenzbegabung, haben auch Menschen, die sich selbst als unreligiös bezeichnen. Es ist eine Fähigkeit, die den Menschen als Menschen ausmacht, unabhängig von seiner religiösen Einstellung. Es ist die Fähigkeit, etwas auszudrücken, was nur schwer auszudrücken ist. Die Suche nach dem richtigen Ausdruck ist dabei etwas typisch Menschliches, mit den Worten des kanadischen Schriftstellers Yann Martel ("Schiffbruch mit Tiger") gesprochen: "Wo immer wir können, müssen wir den Dingen Gestalt geben, denn Gestalt bedeutet Sinn." Rituale sind solche sinndeutenden Gestaltungsformen. Sie deuten Realität über Symbole, die selbst Verweischarakter haben. Auch davon ist die Weihnachtszeit voll: Sterne, Krippen, brennende Kerzen etc., neuerdings auch verstärkt Herzen, was auf den heute wohl am häufigsten mit Weihnachten verbundenen Charakter verweist: Weihnachten als Fest der Liebe.

Welcher ungeheure Druck durch die Idealisierung von Weihnachten zum Fest der Liebe und zum Fest der Familie entstehen kann, soll hier nicht im Detail ausgeführt werden, aber doch kurze Erwähnung finden. Es ist der Wunsch nach Harmonie und Frieden, der hinter vielen Traditionen und Ritualen steckt. Umso härter trifft deshalb viele Menschen der manchmal selbst schon zur "Tradition" gewordene Weihnachtskrach.

Eng verbunden mit dem Wunsch nach Einmütigkeit ist die Sehnsucht nach dem vielbesungenen "Zauber der Weihnacht", der zurückführen soll in die eigene Kindheit, in eine Zeit, die - retrospektiv - als unbelastet und voller Wunder erscheint. Vielleicht wird dieser Wunsch sogar größer, je mehr man im Alltag alles hinterfragt und kritisch durchschauen möchte. Gerade Rituale, in denen im Grunde immer die Erfahrung wichtiger ist als der intellektuelle Nachvollzug, können diesen "Zauber" ermöglichen. Damit ist nicht Magie gemeint, sondern eine Form von unmittelbarer Erfahrung, die einen in den Bann zieht. Rituale lassen verloren Geglaubtes wieder unmittelbar erleben, und so mancher Weihnachtsbrauch zielt darauf ab, eine solche "zauberhafte Atmosphäre" zu schaffen.

Eine weitere allgemeine Funktion von Ritualisierungen trifft auch auf die Weihnachtsbräuche zu: Sie schaffen Sicherheit in einer ungewohnten Situation. Zumindest solange sie nicht in Frage gestellt werden, helfen Rituale und Traditionen dabei, Ungewohntes zu bewältigen. Denn obwohl Weihnachten jährlich wiederkehrt, bleibt es eine Ausnahmesituation im Jahreskreis.

Christliche Weihnachtsrituale heute

Die Vielzahl christlicher Rituale rund um das Weihnachtsfest ist wenig überraschend, handelt es dabei doch um eines der beiden zentralen Feste des Christentums. Aber auch wenn sich Roraten und Adventkranzfeiern nach wie vor großer Beliebtheit erfreuen und zu Weihnachten so viele Menschen zum Gottesdienst kommen, wie sonst nie im Jahr, lässt sich doch nicht übersehen, dass die christlichen Rituale gesamtgesellschaftlich an Bedeutung verloren haben. Zwar sind manche noch als Bräuche und Traditionen geschätzt, wie eben der Adventkranz. Dennoch wird dieser nicht unbedingt im christlichen Sinn als Wegweiser auf das Lichtfest Weihnachten hin verstanden, an dem Gott Mensch wird, um für alle Menschen "das Licht der Welt" zu sein. Angesichts hell erleuchteter Straßen und Weihnachtsmärkte ist intensive Dunkelheit für viele kaum mehr erfahrbar.

Die Krise traditioneller christlicher Rituale bedeutet jedoch nicht, dass es rund um Weihnachten keine Rituale mehr gibt, ganz im Gegenteil: Es entstehen immer wieder neue. Nur sind diese meist persönlicher gestaltet und stärker an der konkreten Person, der jeweiligen Familie oder Gruppe orientiert. Gesucht wird nach dem individuell richtigen Ausdruck für die Dinge, die einem wichtig und wertvoll sind. Decken sich die Wertungen mit denen, die in traditionellen, christlichen Ritualen Gestalt finden, und wird diese Gestaltung verstanden und als passend angesehen, dann behalten christliche Rituale ihre Relevanz. Ist aber entweder der Inhalt nicht mehr verständlich, entspricht er nicht mehr den eigenen Überzeugungen oder ist er ästhetisch nicht ansprechend, so fühlen sich viele nicht mehr an dieses Ritual gebunden und versuchen etwas Eigenes zu entwickeln. Viele haben sich nach ideeller und moralischer Emanzipation von kirchlichen Vorgaben nun konsequenterweise auch von rituellen Vorgaben losgesagt. Kirchliche Rituale genießen zwar als Angebote immer noch großes Ansehen, aber nur in dem Maße, in dem sie zu den Personen und ihren konkreten Lebenssituationen passen.

In dieser Situation scheint es sinnvoll, kirchliche Angebote breiter zu fächern und verschiedene Anknüpfungspunkte zu bieten. Ein solches alternatives Angebot ist das "Nächtliche Weihnachtslob" im Erfurter Dom: Bereits 1987 fand in der - religionsfernen damaligen DDR - am Heiligen Abend kurz vor Mitternacht ein Wortgottesdienst statt, der sich vor allem an Kirchenferne richtet.

Feiern außerhalb der eigenen vier Wände

In Österreich bieten bereits mehrere Pfarren sowie soziale Vereine Alternativen zum Heiligen Abend in den eigenen vier Wänden an. Unter dem Titel "Weihnachten gemeinsam statt einsam" oder "Offener Heiliger Abend" trifft man sich zum Essen, Singen, Feiern und teilweise Beten. Immer mehr Menschen stellen hierzulande ihren Weihnachtsabend auch in den Dienst einer guten Sache, indem sie in einer Obdachloseneinrichtung, einer Justizvollzugsanstalt oder einem Asylheim mithelfen und mitfeiern.

Aufwind haben auch Rituale in der Natur - oft im Rahmen von Wintersonnenwendfeiern oder der feierlichen Begehung der Raunächte. Auch christlich geprägte Naturrituale werden vereinzelt angeboten. Ein wichtiges Motiv ist dabei die Wanderung im Dunkeln, häufig mit Fackeln oder selbstgestalteten Laternen. In ländlichen Gegenden wird auch der Brauch des "Mette-Gehens" wieder öfter gefeiert. Dabei trifft man sich, um gemeinsam zu einer Kirche zu wandern. Weihnachten ist eine emotional dichte und intensive Zeit voller Hoffnungen und Erwartungen. Traditionen und Rituale helfen dabei, diese Zeit sinnvoll zu gestalten. Christliche Rituale spielen hier nach wie vor eine Rolle. Eine Kirche, die sich auf ihren Schatz an Ritualen und Traditionen besinnt und das Gegenüber in seiner Selbstbestimmung ernst nimmt, hat hier ein Angebot, das sich sehen lassen kann.

Die Autorin ist Assistentin am Instut für Praktische Theologie der Universität Wien

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