Ritualmord-Hysterie zur Osterzeit

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Vor gut 100 Jahren rief ein "Oster-Ritualmord" in Böhmen Hysterie hervor: Der auf christlichem Antijudaismus fußende Fall Hilsner galt als böhmisch-österreichische Affäre Dreyfus. Spuren des Falles reichen bis in die Gegenwart.

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Vor gut 100 Jahren rief ein "Oster-Ritualmord" in Böhmen Hysterie hervor: Der auf christlichem Antijudaismus fußende Fall Hilsner galt als böhmisch-österreichische Affäre Dreyfus. Spuren des Falles reichen bis in die Gegenwart.

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Am Abend des Karsamstags, 1. April 1899, fand man in einem Wald nahe der Straße, die von der tschechischen Stadt Polna nach Klein Weznitz führt, die Leiche der 19-jährigen Agnes Hruza. Auffällig war ein langer Schnitt am Hals der Toten. Der Verdacht richtete sich zunächst gegen den Bruder der Ermordeten, der mit ihr einen Erbstreit geführt hatte und offenbar nach Amerika geflüchtet war.

Doch der Zeitpunkt der Auffindung der Toten zu Ostern und die Art der Halswunde nährten das Gerücht, dass das Verbrechen ein jüdischer Ritualmord gewesen sei. Der Verdacht fiel auf den als geistig behindert geltenden Juden Leopold Hilsner, der schon am 5. April arretiert wurde. Gegen die jüdische Bevölkerung der Gegend kam es schon am nächsten Tag zu schweren Ausschreitungen, sodass Hilsner auf Druck der öffentlichen Meinung im Gefängnis blieb. Der Ritualmord sollte ferner durch zwei medizinische Gutachten bewiesen werden: Es sei nämlich aus der großen Wunde zu wenig Blut ausgetreten, daher müsse das Blut für andere Zwecke aufgefangen worden sein. Die antijüdischen Krawalle weiteten sich auf ganz Böhmen und Mähren aus.

Die Hysterie fügt sich bestens in das Gesamtbild dieser Jahre. 1893 hatte der berüchtigte Pfarrer von Weinhaus im heutigen 18. Wiener Gemeindebezirk, Dr. Josef Deckert, ein Buch mit dem Titel "Ein Ritualmord. Aktenmäßig nachgewiesen" herausgebracht. Weite Teile der katholischen Gläubigen waren von der Richtigkeit solcher Anschuldigungen gegen die Juden überzeugt: Meist geschahen diese Untaten zu Ostern, im aufgeheizten Klima der Passionszeit, da man in Hernals den "Körberljud" öffentlich anspuckte oder ohrfeigte. Die mörderischen Absichten der Juden und ihre Grausamkeit gegen Christen schienen durch den Bestseller "Der Talmudjude" des Prager Alttestamentlers August Rohling und durch die Reden Karl Luegers genügend gesichert, um zu solchen Ausbrüchen wie jenen in Böhmen und Mähren des Jahres 1899 zu führen.

Hilsner wurde im September 1899 in Kutna Hora zum Tode verurteilt. Haarsträubende Zeugenaussagen wie die eines Mannes, der angab, er habe Hilsner aus 700 Meter Entfernung eindeutig erkannt, wurden als wahr und plausibel gewürdigt. Der wenige Wochen später stattfindende Revisionsprozess beruhte zwar auf einem anderen medizinischen Gutachten - Sexualmord wurde als wahrscheinlicher angenommen - doch nachdem es als erwiesen schien, dass der Angeklagte einen Sexualmord begangen habe, kehrte man unter dem Druck antisemitischer Agitationen wieder zur Ritualmordversion zurück und bestätigte das Ersturteil. Einigen der beteiligten Juristen war völlig klar, dass hier ein Unschuldiger verurteilt worden war. Das Urteil wurde weiterhin bestätigt, aber wegen der doch klar auf der Hand liegenden Zweifel in eine lebenslange Haft umgewandelt; erst nach 18 Jahren Gefängnis kam Hilsner anlässlich der Thronbesteigung Kaiser Karls I. 1916 unter ebenfalls entwürdigenden Umständen frei (um der Sache kein zu großes Aufsehen zu verschaffen, wurde ein tatsächlicher Mörder ebenfalls amnestiert).

Die Ähnlichkeiten hinsichtlich der Verdrehungen des tatsächlichen Sachverhalts mit dem berüchtigten Dreyfus-Prozess in Paris waren den Zeitgenossen klar - und so galt der Mann, der sich für eine Wiederaufnahme des Verfahrens einsetzte, Thomas G. Masaryk, der spätere erste Präsident der tschechoslowakischen Republik, als der "Zola" der Monarchie. Selbst der Reichsrat wurde mit der Sache beschäftigt: Die Liberalen verlangten einen neuen Prozess, die Christlichsozialen brachten einen Gegenantrag ein, so geschah nichts. Das Spektakel um den 1918 enthafteten Hilsner stieg diesem zu Kopf, als er meinte, er wäre es gewesen, der Präsident Masaryk zum berühmten Mann gemacht hätte. Immerhin war die Sache so prominent, dass Egon Erwin Kisch 1928 einen Artikel "Zum Tode Leopold Hilsners" schrieb. Hilsner, der die letzten Jahre in Wien gelebt hatte, wurde auf dem Zentralfriedhof bestattet.

Oster-Agitationen Ritualmordbeschuldigung und die dazugehörigen Prozesse: ein tragisch-groteskes Phänomen einer Zeit, die sich überwiegend als zivilisiert, fortschrittlich und rational definierte; die Schattenseite dessen, was als katholische Erneuerung und Selbstbesinnung der Kirche verstanden wurde! Irrational angedockt an mittelalterliche Osteragitationen gegen Juden. Die Hilsner-Affäre blieb prominent: Hervorragende Juristen beschäftigten sich in Fachartikeln und Büchern jahrzehntelang mit den vor Verfahrensfehlern strotzenden Prozessen, und Peter Zimmermann schrieb kürzlich darüber einen Roman ("Die Nacht hinter den Wäldern"), der in der Neuen Zürcher Zeitung unter der melodramatischen Überschrift "Abgründe der Donaumonarchie" rezensiert wurde. Polna, wo das Verbrechen von 1899 geschah, gerät auch heute noch in die Schlagzeilen tschechischer Medien - als Aufmarschort rechtsextremer Gruppierungen.

In der tschechischen Republik wurden die Hilsner-Urteile 1998 aufgehoben; nach einer Tagung zum Thema an der Karlsuniversität in Prag 1999 und einem Vortrag an der Hebräischen Universität im Mai 2000 setzten Bemühungen ein, auch das Wiener Urteil aufzuheben. Bundespräsident Klestil und Präsident Havel erhielten Briefe, um die Sache gemeinsam in die Wege zu leiten. Auch dieser Fall ist eine Gemeinsamkeit in der österreichisch-tschechischen Geschichte. Ungeachtet aller juristischen Fragen, die mit der Aufhebung des Wiener Urteils verbunden sind, wäre eine gemeinsame Erinnerung der beiden Präsidenten an Hilsners Grab auf dem Zentralfriedhof in Wien ein aussagekräftiges Symbol, dass beide Staaten zusammen Verantwortung übernehmen und darüber hinaus ein Zeichen setzen wollen, dass die tschechisch-österreichischen Beziehungen nicht bloß aus dem unerträglich hochgespielten Temelin bestehen. Hilsners Grab wurde im Vorjahr von Wiener Schülern der Berufsschule Baugewerbe renoviert und des unschuldig Verurteilten bei einer Gedenkfeier gedacht. Der Aktionsradius Augarten veranstaltete im Jänner bis Anfang Februar eine Ausstellung über Hilsner und sein tragisches Schicksal.

Der Autor, Historiker, leitet in St. Pölten das Institut für Geschichte der Juden in Österreich.

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