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Ritualmordlegende: Kein „Jein" zu Anderl!

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Der Wiener Weihbischof Kurt Krenn hält auch ohne Ritualmordlegende eine Verehrung des „Anderl von Rinn“ für möglich. Dazu hier im Wortlaut der Innsbrucker Bischof.

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Der Wiener Weihbischof Kurt Krenn hält auch ohne Ritualmordlegende eine Verehrung des „Anderl von Rinn“ für möglich. Dazu hier im Wortlaut der Innsbrucker Bischof.

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Die Äußerungen Weihbischof Kurt Krenns zur Frage „Anderl von Rinn“ wurden in der Diözese Innsbruck mit Bedauern zur Kenntnis genommen. Man hätte sich zumindest eine vorhergehende Kontaktaufnahme erwartet. Es wird zwar auf der einen Seite die Ritualmordverdächtigung in Frage gestellt und die Aufforderung ausgesprochen, den Anordnungen des Bischofs von Innsbruck Folge zu leisten, auf der anderen Seite wird dies aber durch die Bemerkung relativiert, man könne, sich eine Verehrung des Anderl durchaus vorstellen, „wenn sich herausstelle, daß dieses Kind einem Verbrechen zum Opfer gefallen sei“. In diesem Zusammenhang wird darauf verwiesen, daß es „in der Kirche mehrere Fälle von Kindern und Jugendlichen gebe, die deswegen verehrt werden, weil sie in Verteidigung ihrer Unschuld Opfer brutaler Gewalt wurden“. Weiters wird auf das Beispiel Maria Goretti verwiesen. Ich muß zu den zitierten Stellen bemerken, daß die Medienstelle der Erzdiözese Wien ausdrücklich versichert hat, daß dieser Wortlaut von Weihbischof Krenn genehmigt wurde.

Weil es hier um die Wahrheit, die Wahrhaftigkeit und damit auch um die Glaubwürdigkeit der Kirche geht, sehe ich mich leider gezwungen, diese Äußerungen zu kritisieren.

Die Verehrung des Anderl von Rinn als Seligen hatte einen einzigen, durch Jahrhunderte festgehaltenen Grund: Man behauptete, das dreijährige Kind sei einem jüdischen Ritualmord zum Opfer gefallen, also aus Haß gegen das Christentum ermordet worden und somit ein Märtyrer.

Diese Behauptung-wie der Hexenwahn aus dem dunkelsten Aberglauben des ausgehenden Mittelalters geboren — ist nicht nur historisch unhaltbar, sie ist auch gleichzeitig eine schwerwiegende Verleumdung der jüdischen Religionsgemeinschaft. Und mit Lügen ist es nicht wie mit Kognak: Sie werden durch lange Lagerung nicht besser. Aus diesem Grund wurden schon vor mehr als zwanzig Jahren unter meinem Vorgänger das Fest, der Kult sowie die Meß-und Breviertexte des Anderl von Rinn abgeschafft. Die Sache schleppte sich aber trotzdem weiter. Und darum mußten Konsequenzen hinsichtlich einer neuen Sinngebung der Kirche (nunmehr Fest Maria Heimsuchung) und der Entfernung der Gebeine vom Hochaltar und ihrer Beisetzung in der Kirchenmauer mit aufklärender Inschrift gezogen werden.

Seit etwa drei Jahren kommt man nun, nachdem man jahrhundertelang in blutrünstigsten Formen den angeblichen Judenmord beschrieben hatte, aus einigen Kreisen, die den Kult retten wollen, mit folgender Version: „Sagen wir halt, es waren keine Juden, es waren andere. Das Anderl ist ein unschuldiges Kind, also machen wir einfach weiter.“

Dazu möchte ich folgendes festhalten: Mit diesem billigen, diplomatischen „Jein“ kann sich die Kirche nicht aus einem jahrhundertelangen Unrecht gegenüber einer anderen Religionsgemeinschaft davonstehlen. Ich verstehe nur zu gut, daß die jüdische Kultusgemeinde auf solche „Lösungen“, die in Wirklichkeit alles beim alten beließen, mit Empörung reagiert. Wenn man uns Katholiken 400 Jahre lang unberechtigterweise unterstellt hätte, wir hätten andersgläubige Kinder geschlachtet, und uns dann mit so einer pfiffigen Wendung abspeisen wollte, würden wir uns auch zur Wehr setzen.

Es steht außer Zweifel: Wenn der Ritualmord fällt, fällt jeder Grund zur Verehrung als Märtyrer. Das Kind ist möglicherweise durchaus Opfer eines Verbrechens gewesen — das wird bei vielen Ritualmordunterstellungen der Fall gewesen sein —, und es ist sicher beim lieben Gott - wo sollte es schon sonst sein? —, aber es ist eben kein Märtyrer. Der Vergleich mit der heiligen Maria Goretti ist vollständig unzutreffend. Es ist doch ein gewaltiger Unterschied, ob ein Mensch in Verteidigung eines hohen Gutes sein Leben verliert oder das Opfer eines Verbrechens, eines Krieges oder eines Verkehrsunfalls wird. Das reicht zur Verehrung auf den Altären nicht.

Die in Innsbruck getroffene Neuordnung entspricht, wie ich glaube, einer allgemein menschlichen und christlichen Pflicht, die für die Kirche als Ganzes auch gelten muß: Man muß ein Unrecht gutmachen, eine Verleumdung zurücknehmen und schlicht und einfach zugeben, daß man sich geirrt hat. Angenehm ist das nicht.Und es gibt heute Leute, die auf der merkwürdigen Meinung beharren, eine solche Revision schade der Autorität der Kirche. Natürlich ist genau das Gegenteil der Fall.

Die Innsbrucker Neuordnung entspricht der Grundintention des II. Vatikanums, in dessen vorbereitenden Besprechungen zur Judenfrage die Ritualmorde ausdrücklich als größte Hypothek genannt wurden. Sie entspricht den schon vor fast einem Vierteljahrhundert getroffenen Maßnahmen meines Vorgängers, den Beschlüssen des Bischofsrates und des Pastoralrates der Diözese Innsbruck, des Abt-Rates des Stiftes Wilten, in dessen Gebiet Judenstein liegt, und des Pfarrgemeinderates von Rinn/Judenstein. Schließlich hat sich auch die Österreichische Bischofskonferenz in einer Solidaritätserklärung dahinter gestellt. Solange ich für diesen kleinen Teil der Weltkirche in Tirol nun einmal die Verantwortung tragen muß, werde ich keinem Druck in dieser Sache weichen.

Ich möchte nun ausdrücklich festhalten, daß ich Weihbischof Kurt Krenn keinerlei antisemitische Intentionen unterstelle. Schließlich hat sich sein Vorge-setzter, der Hochwürdige Herr Erzbischof von Wien, Hans Hermann Groër, in ganz klarer Weise gegenüber der jüdischen Gemeinschaft ausgesprochen. Aber die Formulierungen des Hochwürdigen Herrn Weihbischofs sind geeignet, gewissen Kreisen, die den Kult in Rinn wie bisher fortsetzen wollen, Auftrieb zu geben.

Und das ist bedauerlich. Denn es ging hier nie um die Verurteilung von Menschen, die begreiflicherweise eine liebgewordene lokale Tradition verteidigen und denen das Anderl wirklich religiös etwas bedeutete. Dieser—allerdings kleine — Kreis hat mir selbst immer leid getan, und ich nehme eine gewisse Verbitterung mir gegenüber gerne in Kauf. Aber inzwischen machen sich Leute in Österreich in der Anderlfrage stark, denen diese Sache religiös gar nichts bedeutet und nie etwas bedeutet hat, und für die Judenstein nur zum Aufhänger dient, gegen die konziliare Öffnung der Kirche gegenüber anderen Religionsgemeinschaften zu agieren xler gar antisemitische Tendenzen mit frommen Vorhängen zu tarnen.

Und darum ist diese unangenehme Frage keine Lokalangelegenheit. Es geht hier um die Wahrhaftigkeit der Kirche und schlußendlich um die Wahrheit. Die Bereinigung des Falles Judenstein ist ein Gebot der Gerechtigkeit und Liebe.

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