Sandomierz - © Public Domain Foto    Ausschnitt aus dem Bild "Kindermorde" von Karol de Prevot (1710) im Dom von Sandomierz.

Ritualmordlegenden: Das blutige Gerücht

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Antijüdische Ritualmordlegenden gehören zu den schwärzesten Geschichts-Kapiteln des "christlichen" Europas. Die skandalösen Lügen werden - von Polen bis zum Anderl-von-Rinn-Kult - immer noch geglaubt.

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Antijüdische Ritualmordlegenden gehören zu den schwärzesten Geschichts-Kapiteln des "christlichen" Europas. Die skandalösen Lügen werden - von Polen bis zum Anderl-von-Rinn-Kult - immer noch geglaubt.

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Die alte Synagoge in der polnischen Stadt Sandomierz ist heute kein Gebetshaus mehr. Sie dient als Stadtarchiv, mit riesigen Regalen bis unter die Decke. Michael Dushinsky, der Rabbi aus Ostrava, singt leise den Kaddisch. Juden gibt es so gut wie nicht mehr in Sandomierz.

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Dann steht die kleine Gruppe aus Österreichern, Deutschen und Polen im Dom von Sandomierz, vor einem Gemälde aus dem Jahre 1710 von Karol de Prévot. Titel: "Kindermorde". Darauf zu sehen ist unter anderem ein Kind in einem Fass, in das man von außen Nägel getrieben hat. Eine Darstellung des alten europäischen Gerüchts, Juden würden Christenkinder töten und ihr Blut für kultische Zwecke, zum Beispiel zum Backen von Mazzes, verwenden.

Perverse Denkverirrung

Der Dompfarrer von Sandomierz sieht keinen Grund, das Bild zu entfernen oder auch nur eine erläuternde Tafel anzubringen. Der ganze Dom sei ausgestaltet mit Darstellungen von Märtyrerqualen. Man könne es nicht herausnehmen, ohne die Gesamtkonzeption zu stören. Und was die Hinweistafel beträfe: Es würde doch ohnehin jeder nur das glauben, was er eben glauben wolle. Außerdem: Das Thema sei vielleicht vor 300 Jahren virulent gewesen. Heute aber, sagt der Priester, seien doch "alle Wunden verheilt".

Wessen Wunden?

Er bleibt die Antwort schuldig.

Andrzej Bialko, Krakauer Filmemacher und Gestalter einer TV-Dokumentation über "Ritualmordlegenden in Europa" (im ORF ausgestrahlt am 24. November), hat zu einer Konferenz über das Thema geladen. Die Exkursion nach Sandomierz im Rahmen der Tagung hinterlässt viele nachdenklich.

Im Halbkreis rund um den Volksaltar der Pauls-Kirche von Sandomierz erzählt eine Bilderfolge, angebracht in Kniehöhe, eine grausame Geschichte in allen Details: wie Juden einem christlichen Kind auflauern, es entführen und schlachten. Eigentlich müssten sich Priester weigern, vor diesem Zeugnis perverser Denkverirrung mit dem "Blut Christi" Messe zu feiern. Aber der Jesuit Stanislaw Musial, der sich seit vielen Jahren für den christlich-jüdischen Dialog engagiert und für die Entfernung dieser Bilder kämpft, stößt auf heftigen Widerstand. Denkmalschützer treten gegen ihn auf. Man wirft ihm vor, mit seiner Kampagne Unruhe zu stiften und eine Diskussion, die sich längst erübrigt habe, virulent zu machen.

Hinter vielen Argumenten steht unausgesprochen das Gefühl, man könne doch nicht plötzlich für unwahr erklären, was Jahrhunderte lang als wahr gegolten habe. Musial lässt sich davon nicht beirren. In einer Kirche gehe es um Vermittlung von Wahrheit, sagt er. Die Lüge über den Ritualmord habe darin nichts verloren.

Aus den Referaten bei der Krakauer Konferenz und weiteren Beiträgen ist das Buch "Ritualmord. Legenden in der Europäischen Geschichte" entstanden, das in wenigen Tagen im Böhlau-Verlag erscheinen wird. Ein wichtiges Buch. Denn "Ritualmordlegenden" (die ja streng genommen keine Legenden sind, weil ihnen der wahre Kern fehlt) sind kein allein polnisches, sondern ein europäisches Phänomen.

Trotz Verbot von Blutgenuss

Der Ritualmord-Vorwurf gegen Juden ist ein reines Fantasieprodukt, das sich - der Berliner Antisemitismusforscher Rainer Erb verweist darauf in seinem Beitrag - "aus dem Wurzelgrund christlicher Mythen ausbildete". Dass gerade Juden jeglicher Blutgenuss streng untersagt ist, tat den wilden Fantasien keinen Abbruch. Dass Päpste mit ganzer Autorität dagegen einschritten (der in Innsbruck lehrende Theologe Joop van Banning schildert dies detailreich), konnte den Erfolg des wohlfeilen Gerüchts nicht unterbinden - und auch nicht die spätere kirchliche Anerkennung von Kulten um vermeintliche Ritualmord-Opfer.

Angebliche Konvertiten bestärkten den Irrglauben, dass Juden Christenblut für rituelle Zwecke benötigten. Dass die Beschuldigungen nicht beweisbar waren, wurde eher als Beweis für eine perfekte Tarnung genommen denn als Einwand gegen die abstruse Unterstellung. Hostienschändung, Brunnenvergiftung und eben auch Ritualmord: die Fantasien europäischer Christen über die imaginierte Grausamkeit der Juden, denen man als "Gottesmörder" bedenkenlos jede Perversion zuschrieb, war über Jahrhunderte lebendig.

Von William, Simon, Anderl ...

Der erste historisch überlieferte Fall ist jener des William von Norwich (1144). Es wurde erzählt, Juden hätten einen Buben gekauft, um an ihm die Passion Christi durch Marter und Kreuzigung zu wiederholen. Ein Präzendenzfall war geschaffen; das schaurige Gerücht verbreitete sich in ganz Europa. 1235 tauchte in Fulda erstmals das Motiv der Blutentnahme für kultische Zwecke auf.

1475 verschwand in Trient der Bub Simon. Juden wurden verdächtigt, die Sache kam vor Gericht. Wie in vielen späteren Fällen wurde mit Hilfe der Folter Geständnisse erpresst. Um Simon entstand ein Märtyrerkult wie später auch um das Tiroler Kind Anderl von Rinn.

Das judenfeindliche Gerücht vom Ritualmord ließ sich auch gut für politische und wirtschaftliche Gründe instrumentalisieren, wie der Klagenfurter Historiker Markus Wenninger darlegt. Pogrome auf lokaler und überregionaler Ebene konnten durch angebliche Fälle von Ritualmord vorbereitet werden. Die "Bewirtschaftung der menschlichen Ängste" (Rainer Erb), die zu den "bedeutendsten Quellen der Macht von Menschen über Menschen" gehört, ist keine Erfindung zeitgenössischer Populisten.

... bis in die Gegenwart

Sind alle Wunden verheilt? - Ritualmordlegenden gehören nicht nur der Vergangenheit an.

Der Kult um das Anderl von Rinn, den der damalige Innsbrucker Bischof Reinhold Stecher mutig verbat, lebt bis heute. Unentwegte pilgern nach wie vor nach Judenstein. Fromme Verehrung ist bei vielen von ihnen gleich neben handfestem Antisemitismus zu finden.

Noch 1946 starben in Polen 42 Juden in einem Pogrom. Ein Bub war abgängig - und die Schuldigen an einem Mord, der gar nicht begangen worden war, rasch identifiziert. Henryk Blasczyk, das damals vermisste Kind, ist heute noch am Leben. In Bialkos TV-Dokumentation kommt er zu Wort und zeigt sich heute noch erschüttert über den Gewaltausbruch, den sein Verschwinden ausgelöst hat.

Und Rainer Erb zitiert einen Artikel aus einer saudiarabischen Zeitung, die im März 2002 über angeblich "schreckliche Bräuche" der Juden zum Purimfest berichtete ...

Europäischer Blutrausch

Der Innsbrucker Dogmatiker Józef Niewiadomski merkt an, dass die Ritualmordanschuldigungen nach den ersten Kreuzzügen aufgetaucht seien. In einem ungeahnten Blutrausch habe sich das christliche Europa an Juden vergriffen und ihr Blut vergossen. Die Ritualmordlegenden bedeuten in diesem Zusammenhang eine späte Rechtfertigung und Entlastung. Die Opfer werden als eigentlich Schuldige, die eine Strafe verdient haben, identifiziert. "Der brandschatzende, mordende Christ wird unsichtbar", schreibt Niewiadomski, und: "Gerade in seinem tötenden Treiben nimmt er sich selber weiterhin bloß als fromm und gut wahr."

Buch und Film entstanden im Rahmen eines von der EU geförderten Projekts. Mit guten Gründen: Das sich vereinigende Europa tut gut daran, sich mit der Geschichte seiner Abgründe zu konfrontieren. Gerade ein oft beschworenes "christliches" Europa muss jeder Versuchung widerstehen, seine Identität auf Kosten "Anderer" zu entwickeln.

Vorurteile, Stereotypen und Mythen solcher Art, sagt Pater Musial, "fesseln unseren Verstand und mindern unsere Menschlichkeit."

Der Autor ist Religionsjournalist im ORF-Fernsehen.

Ritualmord Cover - © Böhlau
© Böhlau
Buch

Ritualmord

Legenden in der Europäischen Geschichte.
Hg. von Susanna Buttaroni und Stanislaw Musial,
Böhlau Verlag, Wien 2003,
280 Seiten, geb.,
€ 29,90

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