Werbung
Werbung
Werbung

Friedrich Heer vor der Judenerklärung des II. Vatikanischen Konzils. die furche, 10. 10. 1964

Ein Blick auf Österreich, in unser Land, in die Briefe, die unsere Redaktion "in Sachen Juden" im Lauf von bald zwei Jahrzehnten erhalten hat, zeigt, wie anfällig auch in unserem Volk Menschen für diese Krebskrankheit des Christentums sind. -Eine hochbedeutsame Tatsache ... bezeugt sich heute wieder: Leidenschaftlicher Antisemitismus findet sich auch bei Menschen, die persönlich keinen einzigen Juden kennen oder auch nur gesehen haben, und bei Völkern und Volksgruppen, die keinerlei Berührung mit Juden haben.

Das Christentum und der Katholizismus stehen am Morgen des Atomzeitalters gerade hier an einer Wegmarke: Es gilt, über den blutigen Schatten einer tausendjährigen Tradition und einer mörderischen Praxis, einer Anwendung dieser Theorien zu springen. Wir können heute nicht mehr "übersehen", daß viele der ss-Führer in katholischen und evangelischen Kirchen getauft wurden. Kaltenbrunner, Müller (der Gestapochef), Hoess, der Kommandant von Auschwitz (er sollte Priester werden), entstammen katholischen Familien. Himmler hatte den Bischof von Bamberg als Taufpaten. Adolf Eichmann gehörte in seiner Jugend einem evangelischen Bibelkreis an.

Der christliche Antisemitismus zehrt auch deshalb das Mark der Substanz des Christentums auf, da er mit der tiefen Verwurzelung des Jesus von Nazareth im Alten Testament, in der reichen religiösen und spirituellen Traditionen Israels gerade auch dies "übersieht", nicht wahrnehmen will: Wenn das Christentum auf seine eigene Entwurzelung in diesen Lebenskräften des Alten Bundes verzichtet, vermag es jene Weltfreude, jene Gerechtigkeitssuche, jene selbstkritische Frömmigkeit im Angesicht Gottes und des Menschen, jene Verpflichtung, für die ganze Menschheit "das Reich Gottes" in Leben und Leiden hier und heute vorzubereiten, nicht zu sehen, die das Judentum durch die Jahrhunderte bezeugt. [...]

Wir stehen heute, im Christentum und im Katholizismus, erst am Anfang eines Anfanges: einer neuen Begegnung mit Israel, mit den Juden. Mit dem II. Vatikanischen Konzil hat das Neue Jahr, ein neues Weltenjahr, eine neue weltgeschichtliche Epoche des Christentums noch nicht begonnen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung