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Rufer in der Wüste

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Evensong, das heißt Spätnachmittagsgottesdienst im Münster von York, der altehrwürdigen Kirche am Sitz des anglikanischen Erzbischofs von York: Zu den feierlichen Klängen der Orgel, die ein Thema von Bach variiert, ziehen eine Reihe von Klerikern und eine große Anzahl von Chorknaben in das Kapitelgestühl; Farben, Töne, Lesungen und Gesänge fügen sich in den zu mystischer Andacht einladenden Raum. Doch wendet man den Blick den für das Volk bestimmten Sitzgelegenheiten zu, sieht man sich, peinlich berührt, gähnender Leere gegenüber: der Gottesdienst findet praktisch unter Ausschluß der Oeffentlichkeit statt. Und dies ist keine Ausnahme. Freilich bieten die sonntäglichen Gottesdienste ein belebteres Bild. Dennoch können sie nicht darüber wegtäuschen, daß es sich bei der anglikanischen Kirche um ein esoterisches Reservat handelt, dem echtes Leben fehlt. Im Durchschnitt erfüllen nur etwa acht Prozent der Mitglieder der Staatskirche ihre Sonntagspflicht, Oder gibt es etwa keine Sonntagspflichf in der Church of England? Die Beantwortung dieser Frage führt mitten in die uferlose Problematik einer Kirche hinein, deren Gemeinsamkeit und Einheit lediglich durch ein staatliches Band, durch die Existenzform als „established Church" hergestellt wird und die bei Wegfall dieser juristischen Konstruktion in mindestens drei Kirchen mit ganz verschiedenen Glaubenslehren zerfallen müßte. In Wahrheit gibt es in dieser Kirche weder eine gemeinsame Glaubensauffassung, denn die Auslegung der oft reichlich dunklen und weitgezogenen 39 Grenzpfähle (lies Glaubensartikel) ist praktisch jedem einzelnen überlassen, noch eine wirkliche Disziplin, und dies trotz zweier Erzbischöfe, die eigentlich Jurisdiktionsgewalt besitzen sollten. Die Church of England versucht die theologische und organisatorische Unmöglichkeit, gleichzeitig katholisch und protestantisch zu sein, ein Gewährenlassen aller Richtungen in ihr möglich zu machen. Sie hält indes selbst bei oberflächlicher Analyse weder katholischen noch protestantischen Ansprüchen stand. Unter den verschiedenen Parteien und Fraktionen sind vor allem hq-vorzuheben: die High Church, d. i. jener Flügel der Staatskirche, der auf Sakramente und Ritus Wert legt, die apostolische Sukzession anerkennt und für die Church of England reklamiert. Innerhalb dieser „High-Church-Party“ gibt es eine ziemlich aktive, vor allem von Intellektuellen gebildete Gruppe, die sich selbst „Anglo-Catholicism“ nennt und mit Ausnahme der Unfehlbarkeit des Papstes alle katholischen Dogmen anerkennt, ja auch versucht, liturgische Entwicklungen der Weltkirche in den anglikanischen Raum einzuführen. Wenn man der Frage auf den Grund zu gehen versucht, warum diese Imitatoren Roms eigentlich nicht den Weg nach Rom gehen, kommt man darauf, daß die „Anglo- Catholics" die Verwurzelung in der englischen Tradition über alles stellen und die römische Kirche als eine gleichsam „ultramarine“ Erscheinung ablehnen. Als extreme Gegenspieler der „Anglo-Catholics“ sind die Anhänger der „Low Church" zu nennen. Sie zerfallen je nach der protestantischen Grundeinstellung in extreme Calvinisten und undogmatische pietistische Fanatiker der individuellen Bekehrung und des subjektiven religiösen Lebens. Letztere werden gewöhnlich als „Evangelicals" bezeichnet. Allen „Low-Church“-Gruppen ist eine symbolistische Interpretation der Abendmahlfeier, eine protestantische Ueberzeugung vom „Priestertum aller Gläubigen" sowie eine Betonung des individuellen Moments im Glaubensprozeß gemeinsam. Die Demarka'.icnrlinie zwischen „high" und „low" wird rein äußerlich durch Einzelheiten in der Kirchenausstattung gezogen. Kerzenstöcke, Heiligenbilder, vor allem Beichtstühle gelten als ausgesprochen „high“, während sich der Grad des puritanisch-protestantischen Gehaltes einer Kirche am Fehlen katholi- sierender Elemente und sinnlicher Darstellung ermißt. Praktisch gestaltet jeder Pfarrer bei Amtsantritt seine Kirche nach seinem theologischen Gutdünken; im allgemeinen nimmt der Bischof auf die Ausrichtung einer bestimmten Kirche Rücksicht und ernennt nur einen Kandidaten, der auf Grund seiner Ueberzeugung Gewähr für die Fortführung der Tradition des Gotteshauses bietet. Andernfalls kommt es über kurz oder lang zu einem Exodus der nach oben oder unten überforderten Gläubigen, die in ihrem Frömmigkeitsstil ziemlich konservativ sind und auf Aenderungen selbst geringfügig scheinender Art empfindlich reagieren. Klagt ein Engländer, eine bestimmte Kirche sei „too high“ für ihn, so bezieht sich das nicht, wie man etwa annehmen könnte, - auf das Niveau der Predigt, sondern auf Liturgie und Dekorum. Neben den genannten Gruppen gibt es noch eine „modernistische“ Richtung. Sie versucht, christliche Glaubenswahrheiten „wissenschaftlich“ umzudeuten, um sie auch Skeptikern erträglich zu machen, und „Liberal Catholics", die sowohl die Ewigkeit der Höllenstrafen als auch den Sühnecharakter des Kreuzestodes Christi leugnen. Innerhalb dieser liberalen Gruppe sammelt sich alles, was sich im Lehrkreis der protestantischen deutschen Theologie als „liberaler Protestantismus" klassifizieren läßt.

Mögen auch einzelne Vertreter der anglikanischen Kirche aus der Not eine Tugend machen und die in der Kirche herrschende chaotische Vielgestaltigkeit als Zeichen der Freiheit deuten, jeden nach Wahrheit strebenden Christen wird diese Kirche letztlich enttäuschen und hoffnungslos allein lassen.

Hält man nach echter Frömmigkeit Ausschau, muß man hier sein Augenmerk dem Methodismus zuwenden. Die Methodisten sind die stärkste nonkonformistische religiöse Gruppe, sich in vieler Hinsicht der Lehre und Kultform der „Evangelicals" innerhalb der Church of England annähernd. Der Methodismus war die Schöpfung eines Mannes: John Wesleys, dessen Anfänge im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts liegen. Er war der unumstrittene, hingebungsvolle Führer seiner Herde durch fünfzig Jahre. Ein katholischer Priester äußerte mir gegenüber, daß die Erscheinung Wesleys und die Erfolge des Methodismus (der als Reformbewegung innerhalb der ihren seelsorglichen Aufgaben nicht gewachsenen englischen Staatskirche begann und sich erst langsam als eigene Kirche konstituierte) ein Beweis für das Wirken eines logos spermatikos extra muros ist. In der Tat: der methodistische Einfluß war in vieler Hinsicht segensreich und bedeutsam. Er wirkte als Ventil für die von der Staatskirche enttäuschten, durch die industrielle Revolution geschaffenen Arbeitermassen. Das Entstehen aggressiv-antireligiöser Tendenzen in England wurde dadurch verhindert. Die Existenz einer sozial orientierten, seelsorglich bemühten, volksverbundenen Religion verhinderte die banale Gleichsetzung der Religion mit der ungerechten Sozialordnung. Der Methodismus und mit ihm die „Free Churches" überhaupt nahmen zwar in den vergangenen fünfzig Jahren an Bedeutung ab, aber in ihnen stößt man auch heute noch auf ungebrochene Religiosität. Die methodistische Kirche ist denkbar untheologisch, das heißt niemand legt sich Rechenschaft über Glaubensinhalte, und das Bedürfnis nach Konfrontierung und Klärung ist gering. Der Schwerpunkt liegt auf einem gemeinschaftsbetonten, stark emotional inspirierten und naiv-hingebungsvollen gottesdienstlichen Leben. In den, größtenteils von John Wesleys Bruder Charles schaffenen Hymnen findet die pietistische Frömmigkeit dieser Kirche ihren besten Niederschlag, und das Singen dieser Hymnen bildet nicht ohne Grund das Rückgrat des Gottesdienstes. Bezeichnend ist der stark puritanische Einschlag im Methodismus. Der Widerstand gegen Sonntagsvergnügungen und sonntägliche Veranstaltungen geht maßgebend von methodistischen Kreisen aus. Trunk und Würfelspiel stehen auf der Liste verabscheuungswürdiger Sünden.

Neben den Methodisten verdienen eigentlich nur noch die Quäker eine eigene Erwähnung. Die übrigen protestantischen Gruppen, wie die Kongregationalisten (nach deren Auffassung die Kirchengemeinde unmittelbar Christus gegenübersteht, ohne daß sich eine Zwischeninstanz einschalten dürfte), und die jenseits christlicher Fundamentalwahrheiten be-

heimateten U n i t a r i e r scheinen ihre prägende Kraft längst verloren zu haben.

Die katholische Kirche, in England eine Minderheit, umfaßt etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Aus dieser Minderheitssituation ergeben sich eine Reihe von Besonderheiten. Der Prozentsatz der praktizierenden Katholiken ist weitaus höher als bei uns, selbst in London liegt er. nach priesterlichen Schätzungen bei 50 Prozent, in anderen Landesteilen aber entschieden höher. Die praktizierenden Katholiken sind sich der Verpflichtung bewußt, in einer fremden und vielfach noch feindlichen Umwelt exemplarisch wirken zu müssen. Das Bekenntnis „I am a Catholic" ist niemals ein unverbindlicher Hinweis auf die Tatsache einer bloßen Mitgliedschaft, zu der man keine innere Beziehung hat. Die Positionen der Katholiken in moraltheologischen Fragen, wie Geburtenkontrolle und Euthanasie, sind allgemein bekannt, und Freund wie Feind erwarten von einem in der Oeffentlichkeit wirkenden Katholiken, daß er für diese spezifischen Auffassungen eintritt. Ein wichtiges Aufgabengebiet der Kirche ist die Verteidigung der katholischen Lehre gegen Irrtümer und Entstellungen sowie die Gewinnung von Konvertiten. Jährlich treten ungefähr 15.000 Personen zum Katholizismus über, darunter befinden sich auch anglikanische Kirchendiener, die an ihrer theologischen Position irre wurden. War die katholische Kirche noch vor siebzig Jahren eine fast ausschließlich irische Domäne, so ist die Kirche in ihrer heutigen Gestalt längst über diese nationale Schranke hinausgewachsen, obwohl das irische Element natürlich noch immer von Bedeutung ist. Die nach den Hungersnöten der vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts eingewanderten irischen Arbeiter erweckten den nach der Reformation und den ihr folgenden gesetzlichen Beschränkungen fast dahingesiechten Katholizismus zu neuem Leben. Sie machten vor mehr als hundert Jahren die Wiedererrichtung einer katholischen, Hibrjr hi ® und \ein r normalen. Kjręhenvli- stimmten auch in sozialer und politischer Hinsicht das Antlitz der Kirche: Es kam in England niemals zu jener Entfremdung zwischen katholischer Kirche und Arbeiterschaft, die für die kontinentale Entwicklung so charakteristisch geworden ist. Als um die Jahrhundertwende die selbständige Arbeiterbewegung entstand, befand sich die Kirche ja schon auf Grund der sozialen Struktur ihrer Bekenner nicht im Gegensatz zur Labour Party. In wiederholten Erklärungen haben die Oberhirten von Westminster alle großen Parteien des Landes — Konservative, Liberale und Labour — als für Katholiken wählbar erklärt, und tatsächlich sind diese in allen Parteien immer vertreten gewesen und auch heute vertreten. Die große Masse der englischen Katholiken — nach mir gegenüber geäußerten Schätzungen Lord Pakenhams, des bekanntesten katholischen Politikers in der Labour Party, 80 Prozent — wählt Labour. Dafür ist neben sozialen Gründen auch die Abneigung gegen die stark mit der Staatskirche verbundenen Konservativen und das Fehlen jeglicher antireligiöser Gesinnung in der Labour Party selbst, ja das Vorhandensein einer starken christlichen Substanz in ihr verantwortlich.

Das hoffnungsvolle Wachstum des Katholizismus und die starken Restbestände einer Schleiermacherischen Gefühlsreligion im Methodismus dürfen aber den um Erfassung der Realität bemühten Betrachter nicht darüber hinwegtäuschen. daß England im Grunde genommen ein religiös indifferentes Land ist, dessen Bewohner in ihrer großen Mehrzahl Religion nur als einen traditionellen Ausdruck für soziale Anständigkeit und Gesittung betrachten. Es gibt, wie schon angedeutet, kaum irgendeine Feindseligkeit zwischen Religion und Kirche. Das Bekenntnis zum Atheismus gilt noch immer als eine soziale Ordnungswidrigkeit. Aber der Durchschnitts- . engländer erhebt sich nicht über dieses vage Glaubensgefühl. Erfreulicherweise bildet hier gerade die junge intellektuelle Generation eine Ausnahme, bei der der Prozentsatz ' der bekennenden Christen weit über dem Bevölkerungsdurchschnitt liegt. Vielleicht ist es ein hoff- nujigsvolles Zeichen für eine religiöse Neu- ;be W&niflsfngl ,1Jaß jpäjadft į ;;?pjr ,ru g„Bn -Mręg eįs Ų?g berufenen

Intelligenz Oasen und Rufer in einer Wüste er- " kalteter Konventionen sind.

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