Schafft Demokratie Gerechtigkeit?

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Demokratien bieten ein Höchstmaß an Möglichkeiten, politische Macht zu kontrollieren und Anliegen der Bevölkerung zu legitimieren. Trotzdem bleiben Demokratien filigrane und gefährdete Gebilde.

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Demokratien bieten ein Höchstmaß an Möglichkeiten, politische Macht zu kontrollieren und Anliegen der Bevölkerung zu legitimieren. Trotzdem bleiben Demokratien filigrane und gefährdete Gebilde.

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Der Leumund der Demokratie war Jahrhunderte hindurch schlecht. Verantwortlich dafür waren vor allem abfällige Urteile und Erfahrungen von Autoren gerade aus dem Land, in dem Demokratie erstmals realisiert worden ist, nämlich dem antiken Griechenland. Platon etwa und viele Philosophen und Staatsdenker nach ihm zählten jedenfalls die Demokratie zu den schlechten Staatsverfassungen unter anderem, weil sie voller Unordnung sei und gleichmacherisch wirke.

Erst etwa 2000 Jahre nach dem Niedergang der griechischen Demokratien begann ein schrittweises Umdenken und die bislang als "Pöbelherrschaft" abgewertete Staatsform stieß - an europäische Verhältnisse angepasst - auf neues Interesse. Im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jh. schließlich nahm die Wertschätzung von Demokratie derart zu, dass sogar eindeutig totalitäre kommunistische Systeme Wert darauf legten, sich als "Volks-Demokratien" (als Volks-Volksherrschaften also) zu titulieren. Seit Mitte der 70er Jahre kann man dann geradezu von einem Triumph, einem Siegeszug der liberalen Demokratie sprechen: Konnten doch 1974 erst knapp 30 Prozent aller Staaten als Demokratien qualifiziert werden, so liegt deren Anteil heute bei 60 Prozent!

Erfolg der Demokratie: nur Modeerscheinung?

Worin gründet nun diese stürmische positive Entwicklung? Ist sie nur Mode, oder ist die liberale Demokratie als Form politischer Herrschaft einfach besser, gerechter, leistungsfähiger und daher gegenüber anderen Staatsformen ohne Alternative?

Will man bei der Erörterung dieser Fragen über das Niveau wohl gemeinter Sonntagsreden hinauskommen, so sollte man die nüchternen empirisch fundierten Ergebnisse der Vergleichenden Demokratieforschung ernst nehmen. Sie weist etwa nach, dass man Demokratie gesellschaftspolitisch gesehen schwerlich quasi auf die grüne Wiese hinstellen kann (was ja im Zuge der Entkolonialisierungsphasen oft genug und mit schlechtem Erfolg versucht worden ist), sondern dass ihr Funktionieren überhaupt und die Entfaltung der vollen Leistungskraft des demokratischen Modells wesentlich an gewisse Bedingungen und Voraussetzungen gebunden ist. Zu nennen wären als wichtigste: * ein relativ hoher sozialer und ökonomischer Entwicklungsstand; * ein wachsender Mittelstand und ein Mindestmaß an Sicherheit für die Unterschicht; * offene Klassenstrukturen mit Aufstiegschancen, politische Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger, hoher Bildungsstand und ein Mindestkonsens an (egalitären) Werten.

* Auch sollten zudem die Machtressourcen Landbesitz, Kapital und Wissen möglichst breit gestreut sein.

Eine Staatsform nur für reiche Länder?

Demokratie also eine Staatsform nur für reiche Länder? Natürlich nicht! Aus den vergleichend gewonnenen Ergebnissen soll und darf kein Determinismus abgeleitet werden. Beispiele wie Indien und eine Reihe von südamerikanischen und osteuropäischen Ländern beweisen immerhin, dass in gewissen Situationen entschlossene Akteure trotz widriger sozioökonomischer Bedingungen demokratische Grundregeln durchsetzen können. Tatsache bleibt aber: je schwächer die genannten Rahmenbedingungen ausgeprägt sind, desto gefährdeter die Demokratie. Wir Mitteleuropäer sollten nicht vergessen, wie lange es bei uns gedauert hat und welch schreckliche Umwege genommen wurden, bis einigermaßen funktionierende Demokratien etabliert werden konnten. Vor abschätzigen Urteile über noch junge und aus oben genannten Gründen noch unfertige und daher "fragile" (Manfred G. Schmidt) Demokratien sollten man sich daher hüten.

Gesetzt den Fall, es sind einigermaßen günstige Rahmenbedingungen gegeben, wie gut und gerecht ist Demokratie also? Nun, die demokratischen Regeln garantieren an sich nicht automatisch Gerechtigkeit, aber sie bieten ein Höchstmaß an Möglichkeiten, die permanent notwendigen gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse friedlich zu organisieren, um den Ausgleich zwischen der widerstreitenden Vielfalt an Interessen in Form von - zumindest mehrheitlich akzeptierten beziehungsweise als gerecht empfundenen - Fließgleichgewichten herzustellen. In der Demokratie ist dieser Dauerstreit immerhin verregelt, indem er auf legale Methoden begrenzt wird. Anstelle von Gewalt ist das Argument gefordert und so wird eine große Offenheit für Neues möglich und der bestmögliche Umgang mit Komplexität und Unübersichtlichkeit.

So betrachtet bieten Demokratien (vor allem wenn sie in Verfassungsstaaten eingebettet und von pluralistischen Mediensystemen flankiert sind) verglichen mit anderen Staatsformen ein Höchstmaß an Beeinflussungsmöglichkeiten und Vorteilen. Einige seien aufgezählt: Unblutige Aus- und Abwahl von Führern (man kann also die Politik ändern ohne das System zu ändern), politische Gleichheit, hohe Beteiligungschancen, Responsivität gegenüber Präferenzen der Bevölkerung, hohe Korrekturpotentiale, Rechenschaftspflicht (und damit Kontrollierbarkeit) der politischen Führung, Berechen- und Kalkulierbarkeit von Politik, zumindest Eindämmung der Selbstprivilegierung, Legitimität der politischen Ordnung, und in der Regel große Friedlichkeit und Gewaltlosigkeit bei der Austragung von Konflikten.

Nicht so uneingeschränkt positiv wird unser Urteil ausfallen können, wenn man nun nach den Leistungen, nach dem realen Out-put von Demokratie fragt. Sie garantiert ja nicht mit Sicherheit rationale Lösungen. Die demokratische Regierungsform ist an sich ideologisch farblos und für welche vernünftigen oder unvernünftigen Ziele und Inhalte sie eingesetzt wird, hängt von den jeweiligen Mehrheitspositionen ab. Das Volk beziehungsweise ein erheblicher Teil davon kann auch ungerecht, rassistisch oder wankelmütig sein. Demokratien sind andererseits durchwegs friedfertiger (neigen also weniger dazu, untereinander Kriege zu führen, daher sind auch in aller Regel die Militärausgaben niedriger), sie bemühen sich um stetes Wirtschaftswachstum und um hohe Absicherung der Arbeitsverhältnisse beziehungsweise um den Ausbau des Sozialstaates überhaupt.

Sachpolitik und Reformen geraten freilich nicht selten allzu kompromisshaft und sind wegen des kurzfristigen Erfolgszwanges und der Allgegenwart der Massenmedien oft von einer gewissen Atemlosigkeit geprägt. Auch findet man in Demokratien oft die Tendenz und Bereitschaft, finanzielle und sonstige Lasten des Augenblicks in die Zukunft und damit auf die Schultern späterer Generationen zu verschieben und abzulagern und schwer organisierbare Interessen geringer zu berücksichtigen.

Die demokratische Regierungsform birgt in sich ein Höchstmaß an Möglichkeiten, politische Macht zu kontrollieren und mehrheitlich gewünschte Anliegen der Bevölkerung zu legitimieren und auf friedlichem Wege durchzusetzen und zu realisieren. Garantiert ist damit aber das künftige politische Wohlergehen einer Gesellschaft noch lange nicht. Auch etablierte Demokratien sind trotz ihrer vitalen und robusten Veränderungs- und Anpassungspotentiale gleichzeitig immer auch filigrane und gefährdete Gebilde, die scheitern und wegen schwacher Leistungen, wegen Überforderung oder mangelnder Unterstützung der Bürger oder auch wegen des Überhandnehmens systemoppositioneller Kräfte zusammenbrechen oder Schaden nehmen können.

Den notwendigen Grundkonsens pflegen In säkularisierten Gesellschaften muss die Demokratie ihre Legitimation (das Für-Recht-Befinden) letztlich immer wieder neu schaffen und zwar durch eine entsprechend überzeugende politische Praxis. Es braucht also eine möglichst große Zahl von demokratiefähigen Bürgerinnen und Bürgern und das entsprechende Verhalten der politischen Akteure und Institutionen insgesamt, um den notwendigen Grundkonsens immer wieder zu pflegen und zu sichern. Basiert er doch letztlich auf dem Grundvertrauen in die Diskussionsbereitschaft und Gewaltlosigkeit der übrigen Gesellschaftsmitglieder und auf einem Stil des Umgangs, der dieses Vertrauen immer wieder rechtfertigt. Nur dann wird es für alle Betroffenen ausreichend gute Gründe geben, die aus demokratischen Verfahren hervorgegangenen Lösungen auch dann zu akzeptieren, wenn sie für den einzelnen schwer annehmbar oder gar ungerecht erscheinen.

Die Demokratie also die gerechteste Staatsform? Das Potential dazu hat sie. Ein möglichst großes Maß ihrer Möglichkeiten in die Praxis umzusetzen bleibt aber tägliche Herausforderung.

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Salzburg und Vortragender bei den diesjährigen Salzburger Hochschulwochen.

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