Schlafgrantige, aufwachen!

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Kein anderer Kontinent müht sich so mit Gerechtigkeit - und Europa hat recht damit.

Ich mag dieses mein Europa. Es ist meines. Es gehört mir und Ihnen. Ich finde es überall als meines wieder. Egal ob ich in den Tempeln von Hagar Quim in Malta stehe, bei den Felszeichnungen von Alta in Nordnorwegen, in Palos de Huelva, wo Columbus aufgebrochen ist, oder ob ich bestürzt durch die Lagergassen von Auschwitz gehe oder in das kleinste Erdkirchlein in der Mani am Südzipfel der Peloponnes auf allen vieren hineinkrieche: Es ist immer mein Europa.

Überall ist mein europäisches Erbe. Ein religiöses, ein geistiges, ein kulturelles Erbe, ein Erbe im Recht. Kein geopolitisches, das will ich hier gleich unterbringen. Mit Imperialismus, wie er heute immer noch chic ist, also mit Größenwahn haben wir nämlich tragisch Schiffbruch erlitten.

Seit jeher kann Europa Fremdbestimmung nicht leiden und drängt daher zum Selbstbestimmungsrecht. Das ist Europas roter Faden: von Unwürde zu wenig Würde, von wenig Würde zu mehr Würde und von dort zu jener stolzen Würde, wie sie im ersten Satz der Europäischen Charta der Grundrechte im Verfassungsvertrag steht. Das ist es, was Europa ist: Sein Recht. Seine Selbstbestimmungsrechtsidee. Seine Menschenrechte!

Sehr teuer mit Blut erkauft

Die sind uns nicht in den Schoß gefallen. Die haben das Blut von Generationen gekostet. Menschenrechte sind sehr, sehr teuer. Daher sollten sie uns auch etwas wert sein. Es ging Europa immer um die Autonomie des Menschen. Schon dieser Begriff Auto-Nomie zeigt, dass das Recht über sich selbst zu bestimmen, Recht und Pflicht in sich trägt: über sich selbst bestimmen, heißt zwar bestimmen zu dürfen; heißt zugleich aber, nicht nicht bestimmen zu können, sondern verpflichtend sich selbst bestimmen zu müssen. Weil es sonst andere tun müssten. Denn geordnet muss jede Gesellschaft werden. Absolute Freiheit würde sich sofort selbst genussvoll strangulieren. Die Europäer wissen um diese Gesellschaftsverwiesenheit der Person.

Europa hat von allen seinen Ären Bleibendes: Vom christlichen Grundkonzept sowieso, das muss man allen sagen, auch denen, die das als historisch belastetes Ärgernis empfinden. Es ist, was es ist. Wie könnte man auch Würde anders auflösen als metaphysisch. Was soll denn "unverzichtbare Würde" anderes sein, als die reizfrei gemachte, säkularisierte Begrifflichkeit von der Einmaligkeit des Menschen, auch Gottebenbildlichkeit genannt?

Gottesbezug? De facto drin!

Ich verstehe daher auch gar nicht die Aufgeregtheit der christlichen Fraktion im Verfassungskonvent darüber, dass sie mit dem Gottesbezug in der Verfassungs-Präambel nicht durchgekommen ist. Steht ja de facto alles in Artikel II-61: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen."

Europa hat in seinem heutigen Recht, das kurioserweise so viele fad finden, seine ganze traurige Geschichte zu einem unglaublichen Erfolg geführt. Und alle stehen sie verewigt in diesem Recht drinnen: Aristoteles, Plato, Ovid, Dante, Thomas von Aquin, Thomas Morus, Locke, Montesquieu, Rousseau, klar, auch Olympe de Gouges, Kant, Marx, Bertha von Suttner wie Rosa Luxemburg und auch so ruhige Geister wie Jean Monnet und viele andere mehr.

Alles, was an Errungenschaften erdacht wurde, ist langsam im Wald des Rechts aufgegangen. Man könnte gar nicht sagen, bei welchem Baum welche Wurzel von welcher Idee gespeist wurde. Aber es ist ein schöner Wald geworden. Zugegeben ein ruhiger, aber ist das schlecht? Ist das wirklich fad? Heute könnte sich dieser Wald in der Europäischen Menschenrechts-Charta doch nicht schöner und friedens-und gerechtigkeitsbemühter darstellen.

Kein anderer Kontinent müht sich so sehr ab mit der Gerechtigkeit. Schauen Sie nur auf den Jakob von Metzler Entführungsfall, bei dem ein Polizeipräsident das absolute Folterverbot infrage stellte, oder den des gerade unlängst von einem neunfach überführten Triebtäter missbrauchten und ermordeten Buben. Andere Kulturen hätten mit derlei Tätern kurzes Federlesen gemacht. Wir plagen uns ab, um auch hier noch Gerechtigkeit zu suchen.

Wir Europäerinnen und Europäer waren immer erwacht. Nur hat man uns mit Schlafmitteln und notfalls Bajonetten unsere Menschenrechtsträume auszutreiben versucht. Geht aber nicht. Und dann kommt es in Europa zu diesem unfasslichen Stakkato des Rechts: 1949 Gründung des Europarates, 1950 Erarbeitung der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1952 Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, 1957 Gründung der EWG. Ja, sieht denn niemand, was da sich in einem Europa des Rechts abspielt? Gulliver beginnt sich mit vielen Fesseln rundum selbst zu fesseln. Wissend. Und vorbeugend, weil er sich kennt. Leviathan unterwirft seine Allmacht unter überstaatliche Gerichtshöfe. Unter den für Menschenrechte in Straßburg. Unter den für den politischeren Teil in Luxemburg. Erstmals in dreitausend Jahren lassen Gesellschaften zu, dass ihre eigenen Bürgerinnen und Bürger sie verklagen können - und beste Chancen haben, auch zu gewinnen. Der europäische Rechtsstaat ist also zusätzlich noch abgesichert durch einen europäischen Richterstaat. Ja, was wollen wir denn eigentlich noch in Europa? Manna? Paradies? Das ist uns nicht verheißen.

Andere üben schon EWG

Aber bei der Rechtskultur sind wir vorläufig einmal die Nr. 1 in der Welt. Diese Ansage ist Bilanz, nicht eifernder und nicht geifernder Eurozentrismus. Wir müssen gar nicht mehr missionieren. Die Welt versteht es auch so. Was, glauben Sie, ist Mercosur in Südamerika und ASEAN in Fernost anderes, als EWG spielen?

Europas Recht strahlt schon längst, was wir in unserer geliebten Froschperspektive nicht wahrnehmen wollen. Alle Staaten der Welt, die einen noch weniger, die anderen schon mehr, entkommen den Vorgaben des europäischen Rechts nicht mehr. Demokratie als erste Ausdrucksform des Selbstbestimmungsrechts ist ein Selbstläufer. Dass der selbst China erfassen wird, ist keine Frage des ob, sondern nur eine des wann. So wie wenn man einen Stein ins Wasser wirft und die Wellenringe sich immer weiter hinausbewegen, ziehen die europäischen Menschenrechte ihre Beispielsbahn.

Gut, an den sozialen Grundrechten müssen wir energisch weiterarbeiten. Aber Europa - und hier ist es nun endgültig das EU-Europa und nicht mehr das Europa der Europäischen Menschenrechtskonvention - zieht trotz einer noch nicht ganz fertiggestellten Baustelle schon zur nächsten weiter: die bildungs-und kulturbezogenen Menschenrechte. Und auch damit setzen wir weltweit Maßstäbe, obwohl wir selber noch mitten am Denken und Formen, Schaffen und Hoffen sind. Bitte, lesen Sie doch die EU-Grundrechte-Charta. Das dauert weniger lang, als den Sportteil in der Kronenzeitung zu lesen - und ist verständlicher.

Aufstand gegen "Nix da!"

Und als wären wir damit selber noch immer nicht in ausreichend dünner Luft, geht Europa - und wieder ist es das ungeliebte EU-Europa - gleich noch eine weitere Zukunftsrechtsarchitektur an, und verkündet erstmals den Anspruch auf Schutz der Umwelt zu einem Grund-und Menschenrecht. Das ist nun die vierte Generation der Menschenrechte: Menschenrechte, die wir zukünftigen Generationen jetzt schon zugestehen.

Aber wie soll das denn eingeklagt werden können, fragen wir zaghaft? Richtig gefragt, nur eben zu kleinmütig. Wenn die Europäerinnen und Europäer von 1789 oder 1848 oder 1867 ähnlich gefragt hätten, weil die Antwort ja nur hätte sein können: "Nix da, geklagt wird gar nix!" - wenn die damals verzagt geworden wären, dann wären wir nicht dort, wo wir sind - und ich wage die Prognose, die ganze Welt wäre nicht dort, wo wir sie mit unseren europäischen rechtsideellen Vorgaben hinführen und hinverführen.

Europa hat Recht! Einfach recht! Es kann nur diesen Weg weiter vorexerzieren. Die Welt des 21. Jahrhunderts mit Bomben zur Achse des Guten gewinnen zu wollen, ist so dumm wie völlig unmöglich. Der teuerst erkaufte Frieden ist besser als ein - übrigens auch nicht mehr billig zu habender - Krieg. Und die Plattform für den Frieden kann allemal nichts anderes sein als das Recht.

Europa hat dieses Recht! Sogar eines, das von jedem und jeder gegen den eigenen Nationalstaat durchgesetzt werden kann. Herrgott noch mal, das gab es in der Menschheitsgeschichte noch nie! Wir haben eine überstaatliche Regierung, ein überstaatliches Parlament und einen überstaatlichen Gerichtshof, damit Kleingesellschaften - und seien sie auch so groß wie Deutschland in seiner düstersten, selbstvergessensten Zeit - einfach nicht mehr durchdrehen können. Das ist das Modell für die Welt. Das ist die europäische Botschaft! Das ist Europas Identität, seine Rechtskultur. Ich verstehe nicht, warum überall herumgestochert wird, wo sie denn stecken könne, die Identität. Da ist sie: in der mühsam erworbenen Rechtskultur. Das genügt. Der Rest soll bitte eine Vielfalt von Identitäten bleiben.

Unsere EU unser machen

Europa hat Recht! Und das Recht wird das intelligenteste Kulturprodukt und auch Exportprodukt sein, das Gesellschaften zu ihrem Erhalt je entwickelt haben: zu einem Erhalt in Frieden, in wechselseitigem Respekt, in wechselseitiger Unterstützung, kurz zum Erhalt des Menschlichen an sich. Europa wird erwachen, weil es immer erwacht ist. Und dieses Erwachen muss damit beginnen, dass wir uns ehestens unsere Rechte auch von unserer EU zurückholen, sie zu unserer Union machen, so wie wir im 19. und 20. Jahrhundert unsere Staaten zu unseren gemacht haben.

Recht und Freiheit, das ist unsere europäische Besonderheit in der Welt. Das junge Bürgerinnen-und Bürger-Europa, eben noch schläfrig, naja und halt auch ein wenig schlafgrantig, wird sich zurückmelden. Durch Bürgerbewegungen, durch Bürgerinitiativen, durch Bürger-Referenden. Wie eben in Frankreich und den Niederlanden geschehen. Ist doch gut so, auch wenn's schad ist um den Verfassungsvertrag. Die Bürgerinnen und Bürger sind wieder da! Wir sind Europa. Unser ist unser europäisches Recht.

Der Autor ist Vorstand des Instituts für Europäische Rechtsentwicklungen, Uni Graz; Direktor des Öst. Instituts für Rechtspolitik, Salzburg, und Mitinitiator des Instituts "Europa hat Recht".

Siehe auch Pichlers Europaportale: www.yourope.cc

www.yourhistory.cc

In Arbeit: www.yourights.cc und

www.eu-phoria.cc

sowie: www.europa-hat-recht.eu

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