Schleimige Staatsideologie

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Die humanen Prinzipien der 68er Bewegung haben nicht überlebt. Heute dominieren Vorurteile und Gesinnungsdiktatur die öffentliche Diskussion.

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Die humanen Prinzipien der 68er Bewegung haben nicht überlebt. Heute dominieren Vorurteile und Gesinnungsdiktatur die öffentliche Diskussion.

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Ein Rückblick auf das Jahr 1968 und das Bedenken seiner Folgen wird verschiedene Reaktionen auslösen. Die einen werden mit einer gewissen nostalgischen Stimmung an den Aufbruch zu einer neuen Freiheit, zu einer neuen Solidarität denken; an den mutigen Versuch, überkommene Vorstellungen zu hinterfragen, sinnlos gewordene Tabus zu brechen, an den Widerstand gegen entfremdende Verbote und Gebote. Sie verbinden diesen Rückblick mit Begriffen wie Selbstverwirklichung und Emanzipation, Autonomie und einer aus den Ketten der Vorurteile befreiten Herrschaft der Vernunft.

Andere sehen im Jahr 1968 den Beginn des Verfalls einer bis dahin geltenden Gesellschaftsordnung, das Aufkommen von Anarchie, den Umsturzversuch gewachsener Ordnung, die Umwertung aller Werte, die Diskriminierung von Tugenden wie Fleiß und Leistungsbereitschaft, Verläßlichkeit und Konsumverzicht. Marcuse war der Prophet dieses neuen Lebensgefühls; statt Pflicht Neigung, statt Entsagung Lust, statt Solidarität - wenn auch verbal propagiert - individuelle Bedürfnisbefriedigung. Dies alles, weil die Produktion einen solchen Stand erreicht hat, der jene bis dahin geltenden Tugenden überflüssig machte.

Dies alles kennzeichnete die Situation an den Universitäten: Da waren auf der einen Seite Studierende, die um der Aufklärung und Emanzipation willen dem rationalen Argument absolute Geltung verschaffen wollten; die erbittert gegen angemaßte Autorität kämpften, die die Intrigenmachenschaften in manchen akademischen Gremien durchschauten, sie durch mehr Transparenz und demokratische Mitbestimmung beseitigen wollten, die in unendlichen Diskussionen sich um eine bessere Bildung in Emanzipation und Aufklärung bemühten. Da war vor allem jene Bewegung, die sich gegen die zunehmende Instrumentalisierung des Studiums wandte, die in der herrschenden Gesellschaft die Ausbeutung des Menschen durch rein kapitalistische Interessen bekämpfte, die Reduktion einer akademischen Bildung in unmittelbar verwertbare Ausbildung.

Daneben gab es auch schon die immer größer werdenden Gruppen, die sich mehr auf Happenings, auf einen irrationalen Aktivismus verlegten. Sie verzichteten auf die Kraft des Argumentes, sie wollten schließlich nicht mehr eine bessere Gesellschaft, sondern nur noch eine andere. In akademischen Gremien, in denen sie stimmberechtigt vertreten waren, betrieben sie nun genau das, was sie vorher verurteilt hatten: ein vermeintliches Standesinteresse wurde maßgeblich, Die österreichische Version von Intrige - die Packelei - feierte fröhliche Auferstehung.

Damit war dem ursprünglichen Pathos von Emanzipation und Selbstbestimmung, von Autonomie des Subjekts und herrschaftsfreiem Dialog der Todesstoß versetzt. Manche Zustände an den Universitäten wurden ärger als die, die man ursprünglich zu bekämpfen versuchte. Endgültig in ihr Gegenteil verkehrt wurden die Anliegen der 68er, als diese Bewegung selbst für politische Zwecke instrumentalisiert wurde beziehungsweise sich selbst instrumentalisierte. Damit mußten die leitenden Ideen aufgegeben werden, beziehungsweise noch schlimmer, sie wurden verbal mißbraucht und verkamen zum verlogenen ideologischen Überbau.

Damit lassen sich schon die bedenklichen Folgen jener mißverstandenen und umgewerteten 68er-Bewegung andeuten. Heute scheint es nicht mehr um Aufklärung zu gehen, sondern um Betroffenheit. Argumente zählen kaum, eher die gefühlsmäßigen Appelle. Man verschafft sich die Zustimmung der anderen, auch der großen Masse, indem man seine Gefühlslage als "Gutmensch" darlegt. Die freie Auseinandersetzung, einmal als herrschaftsfreier Dialog gefordert, ist einer feigen Unterwerfung unter eine allgemeine Gesellschafts- und Staatsideologie gewichen, die sich schleimig über alle Bereiche der öffentlichen Diskussion auszubreiten scheint und Formen von versteckter Gesinnungsdiktatur annimmt. Das Vorurteil, dessen Herrschaft einmal radikal bekämpft werden sollte, breitet sich ungehindert aus, Solidarität wird beschworen, Ausgrenzung verurteilt, der hedonistische Individualismus wird öffentlich gepflegt, und Ausgrenzung dessen ständig betrieben, der sich nicht der in den Medien gepflegten allgemeinen Staatsideologie unterwirft.

Es ist eine beklagenswerte Ironie der Geschichte, daß die humanen Prinzipien der Bewegung aus dem Jahre 1968 nicht überlebten beziehungsweise in ihr Gegenteil verkehrt wurden. In Erinnerung an jene Bewegung kann man nur fordern, daß Aufklärung nicht zu Ende sein darf, daß Emanzipation des Menschen als Befreiung von Vorurteil, willkürlichem Bedürfnis, allen hindernden Fesseln zu Selbstbestimmung nicht aufgegeben werden darf.

Der Autor ist emeritierter Ordinarius für Pädagogik an der Universität Wien.

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