Schmerzlindernde GEMEINSCHAFT

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Schmerz ist weit mehr als eine körperliche Empfindung: Gerade seine gesellschaftliche Dimension birgt Hoffnung für neue therapeutische Strategien, argumentiert Wissenschaftsautor Harro Albrecht.

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Schmerz ist weit mehr als eine körperliche Empfindung: Gerade seine gesellschaftliche Dimension birgt Hoffnung für neue therapeutische Strategien, argumentiert Wissenschaftsautor Harro Albrecht.

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Schmerz, lass nach!

Als wichtige Herausforderung stand der Schmerz kürzlich bei einem Kongress der Donau-Uni Krems zur Diskussion. Denn trotz intensiver Forschung leiden in Europa bis zu 20 Prozent der Bevölkerung an chronischen Schmerzen, einer der Hauptgründe für Krankenstände und Invalidität. Über langjährige Leidenswege, erstaunliche Schmerzgeschichten und die heilsame Kraft des Schönen.

Redaktion: Martin Tauss

Der Schmerz ist ein treuer Begleiter des Menschen. Und das ist auch gut so, denn ohne ihn wären wir ganz schön schutzlos. Welche Folgen die Unfähigkeit zur Schmerzempfindung nach sich zieht, lässt sich eindringlich im Süden Israels studieren: In der Wüstenstadt Be'er Scheva fanden Ärzte eine seltene genetische Erkrankung, bei der es nicht zur Ausbildung jener Nervenfasern kommt, die für die Schmerzübertragung zuständig sind. Die betroffenen Kinder verletzen sich, ohne die Konsequenzen zu bemerken. Deshalb werden sie immer wieder von schweren Infektionen heimgesucht. Schmerzlos breiten sich diese mitunter bis auf die Knochen aus. In der Kinderklinik von Be'er Scheva trifft man daher auf viele kleine Patienten, denen mindestens ein Bein amputiert werden musste.

Als Kapitale der Schmerzfreien wurde die biblische Stadt in Israel zu einer Hochburg des Leidens, berichtet der deutsche Arzt und Medizinjournalist Harro Albrecht in seinem kürzlich publizierten Opus magnum zum Schmerz: "Die Unfähigkeit, Schmerzen zu empfinden, ist ein Fluch." Die andere Seite der Medaille ist das zunehmende Schmerzproblem der modernen westlichen Gesellschaften. Denn trotz intensiver Forschung und neuer Medikamente sind chronische Schmerzen zur quälenden "Volkskrankheit" geworden: Je nach Definitionskriterien sprechen Studien von bis zu einem Fünftel oder sogar einem Drittel der europäischen Bevölkerung, die unter länger anhaltenden Schmerzzuständen leiden. Rückenschmerzen etwa zählen in Europa zu den Hauptursachen für Invalidität. In Österreich sind es pro Jahr 406.000 Krankenstandtage mit einem Produktivitätsverlust von 1,12 Milliarden Euro, die durch vorwiegend chronische Schmerzen entstehen.

Soziale Bindung und Belohnung

Dass deren Häufigkeit künftig womöglich noch steigen könnte, dafür werden zwei Prognosen ins Treffen geführt: die alternde Bevölkerung und der Trend zum Übergewicht, das mit einer Reihe von Erkrankungen in Zusammenhang steht. Es bedarf neuer Wege der Schmerzbewältigung, fordert Harro Albrecht, selbst mehrfach operierter Herzpatient, angesichts dieser drängenden Herausforderung. Der Glaube an die medizinische Lösung aller Leiden sei mittlerweile zum Problem geworden, so der Wissenschaftsautor, der dafür plädiert, die existenzielle Erfahrung des Schmerzes endlich wieder "aus der Umklammerung der Medizin" zurückzuerobern. Als geistiger Beistand wird der Theologe und Zivilisationskritiker Ivan Illich herbeizitiert: Dieser diagnostizierte bereits in seinem Werk "Die Nemesis der Medizin"(1975), dass die moderne Heilkunde den Schmerz in eine technische Frage verwandelt habe - und damit das Leiden seiner wesentlichen persönlichen Bedeutung beraubt habe.

Tatsächlich ist der Schmerz mehr als ein medizinisches Phänomen: Stets wird er auch durch psychologische, soziale, auch historisch-kulturelle Einflüsse geprägt. Das beginnt schon damit, dass die Schmerzwahrnehmung nicht wirklich objektivierbar ist. Auch die Medizin muss sich mit visuellen Skalen behelfen, auf denen der Patient die erlebte Schmerzintensität markieren soll - vorausgesetzt, er besitzt überhaupt ein klares Urteilsvermögen. In der Schmerztoleranz unterscheiden sich Frauen und Männer, Kinder und Erwachsene, Arbeiter und Bürgerliche, Masochisten und Hypochonder. Das gilt wohl auch für unsere Vorfahren, die uns Zeitgenossen leicht als "Weicheier" verunglimpfen könnten. Und in der Schmerzinterpretation neigen etwa Christen, Hindus oder Atheisten oft zu ganz unterschiedlichen Zugängen.

Für Harro Albrecht ist es vor allem die soziale Schmerzdimension, die bislang vernachlässigt wurde. Nach der geistig-religiösen Phase der Schmerzbewältigung, nach den medizinischen Erfolgen und pharmazeutischen Entwicklungen wäre es jetzt an der Zeit für ein neues Therapeutikum -d ie Kraft der Gemeinschaft. Denn immerhin gäbe es dafür gute Belege ins Treffen zu führen: Dass die tröstliche Berührung einer nahe stehenden Person den Schmerz dämpfen kann, erfahren bereits Babys oder Kleinkinder, die sich weh getan haben. Es gibt sogar anatomische Strukturen für diese Art von sozialer Schmerzberuhigung, so Albrecht: "Offenbar hat die Evolution den Menschen mit den Schmerzsensoren in der Haut einen 'Tröstmechanismus' installiert, der aktiviert wird, wenn wir uns physisch sanft umeinander kümmern."

Vertraute und Verbündete waren in der Evolutionsgeschichte ein wichtiger Überlebensvorteil, so dass sich im Körper ein reiches Repertoire an Botenstoffen herausgebildet hat, die soziale Bindung mit Belohnung verbinden: zum Beispiel das "Kuschelhormon" Oxytocin oder das breite Spektrum der Endorphine -also körpereigene Opioide, die gerade für die Schmerzhemmung eine zentrale Rolle spielen. Auch bei Affen ist zu beobachten, dass sanfte Berührungen, etwa beim gegenseitigen Lausen, zu erhöhter Endorphin-Ausschüttung führen, das Stressniveau senken und den Zusammenhalt stärken. Umgekehrt sorgen soziale Isolation und schwierige Beziehungen für Stress und höhere Schmerzempfindlichkeit. Wenn der Schmerz in seinen extremen Formen zum Scheitern der Sprache führt, ja zum Unmitteilbaren schlechthin wird, dann bedarf es umso mehr der Gemeinschaft, der Berührung, des Mitgefühls. Zumal das Schrecklichste am extremen Schmerz ohnehin die "Isolationshaft im eigenen Körper" ist, wie der Journalist Ludger Lütkehaus angemerkt hat.

Ohnmacht in Kontrolle verwandeln

Ist es ein Zufall, dass der Gebrauch von Opium in antiken Kulturen in gemeinschaftliche Rituale eingebunden war? Pharmakologische und soziale Schmerzlinderung gingen damals offenbar Hand in Hand. Und soziales Spektakel zusammen mit religiösem Eifer tragen wohl auch auf den Philippinen dazu bei, dass die katholischen Gläubigen die außerordentliche Schmerzbelastung ertragen können, wenn sie sich in San Fernando am Karfreitag alljährlich ans Kreuz nageln lassen.

In einer Kultur, in der es eher unpassend wirkt, wenn ein Arzt tröstend die Hand eines Patienten streichelt, legt Harro Albrecht andere Wege zur sozialen Schmerzlinderung nahe, die ergänzend zur Schmerztherapie zum Einsatz kommen können: etwa Chorsingen oder Gymnastik, oder auch gemeinsames Musizieren, Sporteln oder Tanzen. Für all diese Aktivitäten gibt es Studiendaten, die auf eine signifikante Stress- und Schmerzreduktion hinweisen. Die Illusion und das Dogma der Schmerzfreiheit sollten jedenfalls verabschiedet werden, meint Albrecht: Die Ohnmacht vor dem Schmerz in Kontrolle über das eigene Leben zu verwandeln, wäre tatsächlich schon genug.

Schmerz. Eine Befreiungsgeschichte

Von Harro Albrecht. Pattloch Verlag 2015. 608 Seiten, geb., € 25,70

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