"Seien Sie doch Iphigenie!"

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Protestantin und Protestierende, Feministin, Dichterin, Mystikerin: viele Bezeichnungen sind nötig, um die Theologin Dorothee Sölle zu charakterisieren.

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Protestantin und Protestierende, Feministin, Dichterin, Mystikerin: viele Bezeichnungen sind nötig, um die Theologin Dorothee Sölle zu charakterisieren.

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Ihre erste theologische Arbeit schrieb sie als Gymnasiastin in ihrer Geburtsstadt Köln. Eine neue Religionslehrerin hatte der in einem skeptisch-protestantischen Elternhaus aufgewachsenen Dorothee Nipperdey die ersten drei Kapitel des Römerbriefs als Thema für ein Referat gestellt. Diese entledigte sich brillant der gestellten Aufgabe merkte aber als Anhängerin des heroischen Nihilismus der vierziger Jahre einerseits und Verehrerin der altgriechischen Literatur andererseits im kritischen Teil des Referats an, daß ihr die Gestalt der Iphigenie näherstünde als der Christus des Römerbriefs, der Sühne zu leisten hatte mit seinem Blut. "Ja, dann seien Sie doch Iphigenie!", sagte Marie Veit darauf, so hieß die Religionslehrerin, die bei Rudolf Bultmann studiert hatte. Ein Wort, das Dorothee Sölle heute noch im Ohr hat, wie sie erzählt. Lehrerin und Schülerin sind einander dann verbunden geblieben bis hin zum "Politischen Nachtgebet" in Köln, in den Jahren nach 1968.

Christin, widerständig Aber die Einwilligung Iphigenies, sich hinschlachten zu lassen, um eine beleidigte Gottheit zu versöhnen, das ist Dorothee Sölles Sache nicht. Wohl aber, sich einer Religions- und Staatsräson zu widersetzen, der zufolge Iphigenie einen Landesfremden als Priesterin opfern soll, in dem sie ihren Bruder erkannt hat. Im Fremden den Bruder, die Schwester zu erkennen - und danach zu handeln, das ist nur eine, aber eine herausleuchtende Facette im politisch-theologischen Selbstverständnis der Sölle. Es hat sie zu einer immer umstrittenen Leitfigur so gut wie aller Ausformungen radikalen und widerständigen Christentums in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden lassen: der Tod-Gottes-Theologie, der politischen Theologie, des zivilen Ungehorsams, der Friedensbewegung, der feministischen Theologie, der Umweltbewegung und schließlich eines neuen theologischen Bemühens um den Mythos, in dem das Handeln Gottes aufleuchtet, und zuletzt um die Mystik, die radikalste Begründung menschlicher Würde in der Erfahrung des Einsseins mit Gott.

Ihre große Wirkung auf breite Kreise aktiver Christinnen und Christen (auch solcher, die sich nicht so nennen würden) im deutschsprachigen Raum - ihre Publikationen sind kaum übersehbar - erklärt sich nicht zuletzt aus ihrer rhetorischen und literarischen Begabung, die sie kritisch, analytisch und - vor allem - poetisch einsetzt. In vielen Gedichten, die sie bewußt "Gebrauchstexte" nennt, hat sie ihr Denken und Beten, ihr Klagen und Hoffen so ver-"dichtet", daß, wer sie liest, sich ihnen stellen muß. So lauten einige Zeilen eines Gedichts über Jesus von Nazaret: vergleiche ihn ruhig mit anderen größensokratesrosa luxemburggandhier hält das ausbesser ist allerdingsdu vergleichst ihnmit dir Die Sölle hat in ihrer Heimat jahrzehntelang politische Diffamierung und akademische Ausgrenzung erfahren, links - und eine Frau, das war für eine universitäre Karriere in Deutschland zuviel. Somit ist ihre Lehrtätigkeit in den siebziger und achtziger Jahren in New York einer Emigration gleichzusetzen. Daß sie aber heute - auch in Deutschland - theologisch weniger allein ist, als noch vor Jahren, macht sie glücklich.

Als wir vor zehn Jahren Dorothee Sölle zur regelmäßigen Mitarbeit in den religiösen Sendungen im Radio gewinnen konnten, war die Reaktion evangelischerseits ein schmallippiges "Mhm", was wohl bedeuten sollte: "Muß das sein?" Katholischerseits reagierte man mit dem nicht sehr originellen Reim: "Ja, ja, mit der Sölle geht's zur Hölle".

Als ich ihr dann zum ersten Mal persönlich begegnete, erschien sie mir asketisch, ein wenig müde, blaß und zerbrechlich. Ich war dann aber beeindruckt von ihrer starken und wachen Präsenz - und irgendwie erleichtert, als sie zum Essen gerne ein Glas Wein trank.

Hatte sie als junge Philosophie- und Philologiestudentin das Land der Griechen mit der Seele gesucht, wandte sie sich bald der Theologie zu, da sie bei den Griechen eines nicht fand, was sie schon damals als eine lebens- und überlebenswichtige Notwendigkeit für den einzelnen, aber noch viel mehr für die Gesellschaft erahnte und was der Angelpunkt ihres Denkens und Handelns bleiben sollte: die Umkehr, die jüdische Teschuwa.

In der jüngsten Publikation von Gesprächen mit Dorothee Sölle "Zur Umkehr fähig", einer sehr persönlichen Rück- und Vorschau, sucht sie wieder die Spuren ihres philosophischen, politischen und theologischen Weges auf: Kierkegaard, Bonhoeffer, Heidegger, Sartre. Dann Rudolf Bultmann, den sie zwar selber als Lehrer nicht erlebt, der sie aber - immer wenn sie ihm ihre Publikationen schickte - zu seiner "theologischen Enkelin" ernannt hatte. Ohne Bultmanns Neuinterpretation des Mythos wäre ihre Theologie nicht denkbar, meint sie heute, diese Exodus-Theologie, in der Ägypten überall ist, wo Menschen unterdrückt werden.

Auch Gott leidet Dann Martin Buber. Sie besucht ihn in Jerusalem und gewinnt aus dem dialogischen Personalismus Bubers ein völlig neues Gottesbild, das - etwas verkürzt gesagt - zu ihrer immer wieder mißverstandenen "Tod-Gottes-Theologie" und zu ihrer feministischen Theologie führt: Gott ist liebesfähig und liebesbedürftig, männlich und weiblich. Es ist eine Verirrung des Patriarchats, daß Gott ununterbrochen liebt - und selber nichts braucht. - Gott hat mich nötig! Und ich ihn. Der allmächtige Weltenlenkergott ist tot, weil er nicht der Gott der Bibel ist. Güte, Erbarmen und Mitleid sind mit einem patriarchalistischen Omnipotenz-Gott unvereinbar, Gott ist ein leidensfähiger, ein verwundbarer Gott, Christus ist seine Wunde. Alles, was geschieht, sei von Gott gewollt ... das ist eine grauenhafte Theologie.

Und in der Folge ist im Hinblick auf die unhaltbaren Zustände in unserer Welt für Dorothee Sölle der Satz "Man kann ja doch nichts machen!" eine zutiefst atheistische Haltung, ein Glaube an ein blindes Fatum, kein Licht der Bibel ist da jemals hineingefallen.

Eine politische, befreiende Theologie, die diesem Fatalismus entgegensteht, sieht sie in Europa in der feministischen Theologie gut aufgehoben, die sich nicht im gleichberechtigenden "Auch" erschöpfen, sondern zu einem großen Anders kommen will. Denn wir leben falsch, lassen uns verkrüppeln von Konsumismus und Individualismus, lassen uns betäuben von einer Wie-geht's-mir-heute-Psychologie, dem Opium der Mittelklasse.

Vom Judentum und von der Bibel lernte Sölle auch, daß die Tätigkeitswörter der Theologie sind. Daß es Theologie ist, stets neue Geschichten von Gott zu erzählen, Hoffnungsgeschichten zu sammeln, die Bibel weiter zu schreiben. So bin ich immer jüdischer geworden - aber zugleich Jesus näher gekommen. So gut wie alle Texte sind von solchen erlebten Geschichten durchwoben, ob die sich nun 1985 im schwäbischen Mutlangen zugetragen haben, beim Protest gegen das Pershing II-Raketendepot oder in einem Elendsviertel irgendwo in Lateinamerika. Es nützt ihr nichts, die Bibel zu lesen, wenn sie nicht an ihr schreibt im eigenen Leben.

Mystik und Poesie So wie Dorothee Sölle betrauert, was wir gemeinsam der Erde und den Armen antun - das ist es, was sie "Sünde" nennt - , so betrauert sie das Verschwinden der Poesie und des Erzählens aus dem öffentlichen Leben, das hängt mit der Verdrängung der Religion zusammen, denn Poesie und Religion wohnen bei ihr ganz nah beieinander, und Mystik ist für sie der Zwischenbereich von Poesie und Gebet, der das innere Licht stark macht, nicht die Herrschaft! Nur die Mystik überwindet das Gehorsamsverhältnis zu Gott in ein Liebesverhältnis hinein. Politisch ist die Mystik, weil sie den Trotz kennt, das "Dennoch" der Liebe. Und die Poesie ist die Frechheit mystischer Sprache: ...Gib mir die gabe der tränen gott gib mir die gabe der sprache Zerschlage den hochmut mach mich einfach laß mich wasser sein das man trinken kann wie ich reden kann wenn meine tränen nur für mich sind nimm mir das private eigentum und den wunsch danach gib und ich lerne leben Gib mir die gabe der tränen gott gib mir die gabe der sprache gib mir das wasser des lebens Seit 1969 ist Dorothee Sölle in zweiter Ehe mit dem ehemaligen Benediktinerpater Fulbert Steffensky verheiratet. Katholisch und protestantisch, das sind für sie schon lange nur Heimatdialekte derselben hochdeutschen Sprache. Eine Spaltung der Kirche sieht sie vielmehr zwischen unten und oben, daran muß gearbeitet werden, das lohnt sich!

Ihre autobiographischen Aufzeichnungen "Gegenwind" enden mit dem Satz an ihre Kinder (und an ihre Leser): Vergeßt das Beste nicht! Sölle meint damit, wie sie in einem Radio-Interview sagte, daß wir alle der Liebe fähig werden, das ist der Sinn des Lebens!

Der Autor war bis 1999 Leiter der Hauptabteilung Religion im ORF-Hörfunk.

BUCHTIPS Zur Umkehr fähig. Mit Dorothee Sölle im Gespräch. Von Reinhard Boschki und Ekkehard Schuster. Matthias Grünewald Verlag, Mainz 1999, 104 Seiten, kt., öS 166,-/e 9,43 Gegenwind. Erinnerungen. Von Dorothee Sölle. Piper Verlag, München 1999, 319 Seiten, kt., öS 145,-/e 10,54 Spiel doch von Brot und Rosen. Gedichte. Von Dorothee Sölle. Fietkau Verlag, Kleinmachnow 1998, 3. Aufl., 128 S., kt., öS 146,-/e 10,61 Mutanfälle. Texte zum Umdenken. Von Dorothee Sölle. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1996, 240 Seiten, kt., öS 109,-/e 7,92

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