Selbstbewusst Leidende

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Die westfälische Mystikerin Anna Katharina Emmerick(1774-1825) wird - neben Kaiser Karl I. - am 3. Oktober in Rom selig gesprochen.

Im Frühjahr 2004 hat der Film "Die Passion Christi" von Mel Gibson weltweites Aufsehen erregt und die Medien beschäftigt. Mel Gibson beruft sich dabei auf die Evangelien; seine wichtigere Quelle aber ist ein Buch, das eines der meist gekauften Werke des 19. Jahrhunderts und in den katholischen Familien bis vor 50 Jahren weitaus verbreiteter war als die Bibel: "Das bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi" nach den Betrachtungen der gottseligen Anna Katharina Emmerick aufgeschrieben von Clemens Brentano.

Mel Gibson tut so, als würde er auf dieser Grundlage die Historie über den Leidensweg Jesu darstellen. Aber beruft er sich zu Recht auf die künftige Selige? Das wird in neueren Veröffentlichungen und Stellungnahmen zu Anna Katharina Emmerick bezweifelt. Denn zum einen ist heute kaum mehr zu entwirren, was in dem Buch "Das bittere Leiden" ihre Visionen sind, und was Clemens Brentano hinzugedichtet hat. Und zum anderen hat die künftige Selige keinen Tatsachenroman verfassen wollen. In ihren kurzen Traumbildern geht es ihr um eine innige Verbindung mit ihrem Herrn.

Clemens Brentanos Berichte

Was richtig bleibt: Die Kötterstochter aus Westfalen - Kötter waren arme, abhängige Bauern - ist vor allem durch Clemens Brentano bekannt geworden. Der große Erzähler der Romantik hatte niedergeschrieben, was Anna Katharina Emmerick ihm an Erfahrungen und Schauungen erzählte. Für viele war sie zunächst aufgrund dieser von Brentano dargestellten Visionen interessant geworden und aufgrund der Wundmale, von denen sie in den letzten Jahren ihrer Krankheit gezeichnet war. Doch genau diese Visionen und Wundmale sind es, die heute den Zugang zu ihr erschweren.

Wichtig ist deshalb: Anna Katharina Emmerick wird gerade nicht wegen ihrer Visionen oder wegen ihrer Wundmale selig gesprochen. Im Gegenteil: Was Clemens Brentano besonders ausführlich dargestellt hatte, wurde geradezu zu einem Hindernis, sodass der Seligsprechungsprozess daran zu scheitern drohte. Möglich geworden ist die Erhebung zur Ehre der Altäre aber erst dadurch, dass man die "Nonne von Dülmen" in den letzten Jahren von den "Übermalungen" und romantischen Verzerrungen des 19. Jahrhunderts befreit hat. Gerade von den offiziellen Stellen des Bistums Münster, das die Seligsprechung maßgeblich vorangetrieben hat, wird diese Position immer wieder betont.

Ein Mystikerinnen-Leben

Wer war die "Mystikerin des Münsterlandes", die heute kaum noch bekannt ist, wirklich? Ihr Leben ist rasch erzählt: Anna Katharina Emmerick stammt aus einer einfachen, kinderreichen Familie in der Bauerschaft Flamschen bei Coesfeld im Münsterland. Sie wird am 8. September 1774 geboren und - wie es damals üblich war - noch am selben Tag getauft. Der Zeit und ihrem Stand entsprechend erlebt Anna Katharina Emmerick eine strenge Kindheit, die von Armut, Not und Krankheit geprägt ist. Zur Schule geht sie nur vier Monate, aber sie tut alles, um ihre Bildung und ihr Wissen zu erweitern.

Als 13-Jährige arbeitet sie als Magd auf einem benachbarten Hof, später als Wandernäherin. Die Eltern drängen sie dazu, so bald wie möglich zu heiraten. Doch so gehorsam sie sonst ihren Eltern ist - hier widersetzt sie sich. Mit einer erstaunlichen Selbständigkeit und Zielstrebigkeit verfolgt sie das Ziel ihres Lebens, nämlich in ein Kloster einzutreten - gegen alle Widerstände.

Mehrmals wird Anna Katharina wegen ihrer niedrigen sozialen Herkunft und der fehlenden Mitgift von Klöstern abgewiesen. Sie gibt mit 25 Jahren ihre selbstständige Tätigkeit als Näherin auf und geht als Hausmagd zum Kantor Söntgen in Coesfeld, um bei ihm das Orgelspiel zu lernen. Daraus wird zwar nichts; dafür aber wird sie im Jahre 1802 zusammen mit Söntgens Tochter Klara in das Augustinerinnen-Kloster Agnetenberg in der nur wenige Kilometer entfernten Kleinstadt Dülmen aufgenommen. Doch das von ihr so ersehnte Klosterleben wird für Anna Katharina zu einer harten Schule der Demütigung, Verkennung und Enttäuschung.

Am 3. Dezember 1811 wird das Kloster Agnetenberg durch die Säkularisation aufgehoben, und alle Nonnen müssen das Haus verlassen. Als letzte der Schwestern lässt Anna Katharina Emmerick im März 1812 mit einer Mitschwester die Klostermauern hinter sich und wird Haushälterin des in der Französischen Revolution emigrierten Priesters Abbé Lambert, doch kann sie diese Tätigkeit nie richtig ausführen, da sie bald schwer erkrankt und fast ständig ans Bett gefesselt ist.

Die berühmte Kranke

Ab November 1812 empfängt Anna Katharina Stigmata, die den Wunden Jesu ähneln - auf der Brust, an Händen und Füßen, auf der Stirn. Die Wunder bleiben nicht verborgen, die Dülmener eilen in Scharen in ihr Zimmer, um die Wundmale zu bestaunen; plötzlich ist das kleine Städtchen in aller Munde. Ihre neue Berühmtheit wird für sie zu einer schweren Belastung, manchmal schwerer als die Schmerzen der Krankheit und der Wundmale. Anna Katharina Emmerick ist zu einem Objekt geworden, sie wird bestaunt, untersucht und vorgeführt.

Zur harten Prüfung werden für sie die beiden strengen medizinischen Untersuchungen - durch die Kirche im Jahr 1813 und durch die preußische Regierung im Jahr 1819. Einen Betrug können beide Institutionen ihr nicht nachweisen - weder was ihre Stigmata noch was die ungewöhnlich geringe Nahrung angeht, die sie nur noch zu sich nimmt.

Unter den vielen Prominenten und weniger Prominenten aus ganz Deutschland, die die fast ständig Bettlägerige in ihrer kleinen Stube aufsuchen, ist eben auch der Dichter Clemens Brentano. Fast fünf Jahre, von 1819 bis 1824, verbringt der erfolgreiche und gefeierte Erzähler der Romantik als "Pilger" am Krankenbett der "Nonne aus Dülmen" und schreibt nieder, was sie ihm an Erfahrungen, Bildern und Visionen erzählt.

Als Anna Katharina Emmerick am 9. Februar 1824 in Dülmen stirbt, ist sie weit über die Grenzen der Stadt und des Münsterlandes hinaus bekannt. Für viele steht sie im Ruf der Heiligkeit. Die breite Verehrung führt dazu, dass 1891 ihr Seligsprechungsprozess eingeleitet wird; er wird aber nicht zu Ende geführt, sondern in Rom 1928 vorläufig eingestellt. 1973 wird er auf Initiative des damaligen Bischofs von Münster, Heinrich Tenhumberg, erneut aufgegriffen und jetzt erfolgreich abgeschlossen.

Passio - Compassio - Mystik

Wenn Anna Katharina Emmerick am 3. Oktober selig gesprochen wird, wird der Papst offiziell für die Kirche bestätigen, dass sie den Glauben an das Evangelium authentisch gelebt hat und damit beispielgebend und ermutigend ist für die Menschen. Doch das Echo auf die Seligsprechung ist auch in Deutschland bisher eher verhalten. Weder haben sich konservativ-traditionalistische Kreise für sie stark gemacht oder sie zu ihrem Leitbild erkoren, noch hat sich eine Spiritualität in ihrem Geist herausgebildet oder gar eine Bewegung gegründet, die in ihrer Tradition steht.

Auf der anderen Seite gibt es in Deutschland auch bei progressiven Christen keinen nennenswerten Widerstand gegen die Seligsprechung. Gegenstand kirchenpolitischer Auseinandersetzungen oder Diskussionen ist die neue Selige jedenfalls ganz und gar nicht. Ihre Stimme wird von vielen nicht verstanden und verhallt ungehört, eine volkstümliche Verehrung im eigentlichen Sinne gibt es sogar im Bistum Münster nur in Ansätzen, und nach den einst so weit verbreiteten Büchern greifen nur noch Kenner. Andererseits muss man sich dann fragen: Was hat sie heute noch zu sagen?

Das heutige Bild von der "Seherin von Dülmen" hat nicht zuletzt durch ein Symposion an der Universität Gregoriana vor einigen Jahren neue und realistischere Konturen erhalten. Dieses Symposion mit dem Titel "Passio - Compassio - Mystik" fand 1999 in Rom statt und führte Experten unterschiedlicher Fachrichtungen zusammen. Der frühere Pfarrer der Heilig-Kreuz-Kirche in Dülmen und Vizepostulator des Seligsprechungsverfahrens, Clemens Engling, zeigte sich nach Abschluss des Symposions sehr zufrieden: "Die Gestalt der Anna Katharina hat eine neue Qualität, ja Attraktivität bekommen mit einer neuen Aussagekraft für unsere Zeit." Von Betrachtungsweisen des 19. Jahrhunderts befreit, werde sie in unseren Tagen wieder neu entdeckt, weil sie dem "Idealbild der Frömmigkeit von morgen" entspreche.

Beim Symposion an der Gregoriana war vor allem darauf hingewiesen worden, dass die Persönlichkeit Emmericks im Zuge des Seligsprechungsprozesses, wie oben bereits erwähnt, aus methodischen Gründen aus dem Bannkreis Clemens Brentanos gelöst worden sei. Michael Bangert, geistlicher Autor, Pfarrer in Basel (Schweiz) und früher Diözesanpräses der Katholischen Frauengemeinschaft im Bistum Münster, meint dazu: "Es wird dieser Frau weder gerecht, sie zu romantisieren oder zum leicht abrufbaren Offenbarungsmedium Gottes zu stilisieren noch sie durch historische Diagnoseübungen zur Patientin zu machen."

Liebende Solidarität

Der Mystikerin sei es um ein existenzielles Miterleben all des Leids gegangen, das die Schöpfung durchzieht. Darin liegt nach Ansicht Bangerts ihr besonderes Geheimnis. Um ihr Glaubenszeugnis vor allem jungen Menschen nahe zu bringen, wird man also Begriffe wie "Compassio" (Mitleid) im Sinne einer liebenden Solidarität mit den leidenden Menschen neu zur Geltung bringen müssen.

Was darüber hinaus lange übersehen wurde und heute wieder entdeckt wird: Anna Katharina Emmerick war eine starke Frau, die selbstbewusst ihren Weg ging, so gar nicht der Zeit und ihrem Stand entsprechend. Ebenso selbstbewusst setzte sie sich mit dem Gottesbild ihrer Zeit auseinander und fand ihr ganz eigenes. Sie verfolgte mutig, gradlinig und konsequent ihr Ziel, sich ganz in die Nachfolge Jesu zu stellen. Auch ihr Verständnis von Gehorsam entsprach nicht dem ihrer Zeit.

Sie fügte sich nicht einfach der kirchlichen wie auch der weltlichen Obrigkeit, war für ihre Umwelt unwahrscheinlich emanzipiert: "Das einseitige Bild der Dulderin ist eine Verfälschung des wahren Bildes der Emmerick", hebt Günter Scholz in seiner empfehlenswerten Biografie "Anna Katharina Emmerick - Kötterstochter und Mystikerin" hervor (vgl. Buchtipp unten). Und Josef Voß, Weihbischof im Bistum Münster, betont: "Anna Katharina Emmerick ist nicht die Dulderin', die zu allem einfach Ja und Amen sagt. Sie nimmt ihre Krankheit und ihr Leiden vielmehr ganz bewusst an und gestaltet ihr Leben nach den besten Möglichkeiten aktiv, solange es geht."

Herzensgläubigkeit

Gerade in Zeiten, die mehr auf den rationalen Aspekt des Glaubens setzen, bildet Anna Katharina Emmerick eine Art Gegenpol: Sie steht für eine Gläubigkeit, die ihren Platz im Herzen hat, mehr auf der Ebene der Gefühle als auf der Ebene des Verstandes. Das Evangelium mit dem Gebot der Gottes- und Nächstenliebe war für sie so etwas wie die Leitlinie für ihr Leben. Indem sie instinktiv spürte, dass dazu eine starke, selbstbewusste Persönlichkeit gehört, war sie ihrer Zeit weit voraus. Damit hat sie dem Glaubensleben eine Form gegeben, das auch suchende Menschen von heute ansprechen kann. Dass die Art ihrer Frömmigkeit dennoch nicht jedermanns Sache sein mag, steht auf einem anderen Blatt.

Der Autor ist freier Journalist und lebt in Münster.

BUCHTIPP:

Anna Katharina Emmerick - Kötterstochter und Mystikerin

Von Günter Scholz. Aschendorff Verlag, Münster 2003. 160 Seiten, kt., Euro 9,10

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