"Sie werden goldene Worte darin finden ..."

19451960198020002020

Vor 30 Jahren machte das Buch "Religionsverlust durch religiöse Erziehung" von Erwin Ringel und Alfred Kirchmayr nicht nur innerkirchlich Furore. Die Thesen darin klingen heute aktuell - und mitnichten skandalös. Ko-Autor Kirchmayr erinnert sich an die damalige Entrüstung.

19451960198020002020

Vor 30 Jahren machte das Buch "Religionsverlust durch religiöse Erziehung" von Erwin Ringel und Alfred Kirchmayr nicht nur innerkirchlich Furore. Die Thesen darin klingen heute aktuell - und mitnichten skandalös. Ko-Autor Kirchmayr erinnert sich an die damalige Entrüstung.

Werbung
Werbung
Werbung

Nachdem der österreichische "Neurosenkavalier" Erwin Ringel 1984 die "Österreichische Seele" unsanft auf die Couch gelegt hatte, schrieben wir gemeinsam den Bestseller "Religionsverlust durch religiöse Erziehung"(Herder Verlag, Wien 1985). Die erste Auflage (7000 Stück) war nach drei Wochen vergriffen. Nach mehreren Auflagen erschien das Buch als Herder-Taschenbuch. Wir haben es in einer Sprache ohne Berührungsangst geschrieben. Und viele "Lebensexperten" haben das verstanden. Denn jeder Mensch ist für sein eigenes Leben Experte. Sein Gewissen ist die höchste Instanz für ethische Entscheidungen. Der katholische Herder-Verlag bekam die Verärgerung maßgebender Kirchenmänner über dieses Buch zu spüren. Später kam es zu "Unregelmäßigkeiten", die auf erzbischöflichen Druck hinweisen. Nachdem etwa 40.000 Stück verkauft waren, wurde es nicht mehr ausgeliefert. Der Verlag "Der Apfel" hat es 2004 neu aufgelegt. Ich selbst bekam vor einigen Jahren nicht die Erlaubnis, im Rahmen einer kirchlichen Institution Religionspsychologie zu unterrichten, weil "dieses Buch der Kirche geschadet hat".

Angst vor christlicher Mündigkeit

Vor allem unsere Gedanken über christliche Mündigkeit und eine humane Sexualethik lösten viele Ängste aus. Schon vor 50 Jahren bezeichnete ein Konzilstheologe die katholische Sexualmoral als "Moral für Kaninchen". Aber die Moraltheologie hat nichts Wesentliches dazugelernt. Ein Ordenspriester schrieb einen wütenden Brief an den Direktor des Verlages: "Dieses Buch [...] gehört nicht nur als eines der widerlichsten auf den Index, sondern rein menschlich gesehen in den Feuerpfuhl."

In der FURCHE-Redaktion kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Konsequenz, dass einer eher negativen Rezension eine positive folgte. Der Religionspädagoge Albert Biesinger und der Moraltheologe Günter Virt schrieben 1986 ein Gegenbuch: "Religionsgewinn durch religiöse Erziehung". Die Autoren wollten "Einseitigkeiten korrigieren [...] und eine Argumentationshilfe gegen Verunsicherung" anbieten. Und sie bestätigten den Großteil unserer wohlwollenden Kritik.

Immer mehr Katholiken beiderlei Geschlechts mischen sich in christlicher Gesinnung in ihre eigenen Angelegenheiten ein. Ausnahmsweise durfte der Heilige Geist im schönsten Wahllokal der Welt zwei Mal wirksam werden: einst durch Johannes XXIII. und unlängst durch Papst Franziskus. Aber viele Häuptlinge der Kirchenleitung haben die zentrale Bedeutung christlicher Mündigkeit nicht begriffen. Deshalb hatten und haben die beiden Reformpäpste die größten Probleme mit der vatikanischen Machtzentrale. Denn der real existierende Katholizismus widerspricht in zentralen Bereichen der befreienden Botschaft Jesu.

Das kaum eine Woche alte Buch wurde in der TV-Sendung "Orientierung" von Richard Barta, dem genialen Mitarbeiter von Kardinal König und Gründer der Kathpress, vorgestellt: "Grüß Gott, liebe Zuschauer! Das ist kein Buch für Weihnachten, das ist ein Buch fürs ganze Jahr [...] Sie werden goldene Worte darin finden. Und wenn Sie mit diesen Worten nicht durchwegs übereinstimmen, werden Sie zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung mit Fragen angeregt, die lebensbestimmend für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen sind. Für die Notwendigkeit einer solchen Auseinandersetzung zitieren die Autoren einen unverdächtigen Zeugen, Papst Gregor VII.:'Christus hat nicht gesagt: Ich bin die Gewohnheit, sondern: Ich bin die Wahrheit. Und eine Gewohnheit mag noch so alt und vertraut sein, sie muss der Wahrheit weichen'".

Kardinal König: "Die Kirche ist krank ..."

In einer Ansprache vor jungen Menschen sagte Kardinal König 1984: "Die Kirche ist krank. Sie kämpft ums Überleben." Er ging den möglichen Ursachen dieser Krankheit nach. In unserem Buch haben wir die Ursachen für dieses Elend analysiert und therapeutische Anregungen gegeben.

Die zentrale These unseres Buchs lautete: "Die katholische Kirche befindet sich geschichtlich gesehen in einer ihrer größten Krisen [...] Obwohl gerade heute in vielen Menschen eine neue Sehnsucht nach Religiosität, eine neue Suche nach Sinn und Orientierung aufbricht und die Kirche diesbezüglich einen reichen Schatz in sich birgt, erscheint sie immer mehr Menschen als unzugänglich, unzulänglich, unglaubwürdig, ja, nicht selten als unmenschlich [...] Wir behaupten also, dass die Kirche als Institution ausgesprochen starke krankmachende Tendenzen im Sinne der Neurotisierung aufweist [...] Diese negativen Einflüsse können dann sowohl zum Religionsverlust als auch zur Vergiftung des religiösen Lebens führen."(S. 7ff.)

Drei Kardinalsyndrome erweisen sich als krankmachend:

* die unchristliche kirchliche Auffassung von Autorität und Gehorsam;

* die katholische Sexual- und Ehe-Moral und

* das gestörte Verhältnis zu den Wissenschaften.

Aus dieser Analyse der Pathologie zogen wir Konsequenzen für die strukturelle und spirituelle Erneuerung.

Alles Gute kommt von unten

Aus den weit mehr als 100 Rezensionen, die fast alle positiv waren, möchte ich einige anführen. "Mit diesem Buch ist den Autoren eine meisterhafte Anleitung zu befreiendem Handeln in Sachen christlicher Glaubensvermittlung gelungen. Eindringlich warnen die beiden gleichsam vor dem religiösen Selbstmord [...] Gewidmet ist dieses Buch allen, die an der Kirche leiden. Sie werden sich über diesen Beitrag zu einer europäischen Befreiungstheologie freuen."(Publik-Forum)

Dagegen meinte der Chefredakteur der Wiener Kirchenzeitung: "Vermutlich haben Erwin Ringel, sein Mitautor Alfred Kirchmayr und der katholische Verlag Herder mit dem Buch sogar eine gute Absicht verfolgt. Dieses Ziel wird jedoch kaum erreicht, denn in dem Buch werden [...] gegen die katholische Kirche so zahlreiche und massive Beschuldigungen erhoben [...] dass sich der Leser entweder von dieser Kirche oder von diesem Buch abwenden muss." Offenbar ist es sehr schwer, aus dem Teufelskreis von Idealisierung oder Entwertung auszubrechen. Aber ohne sachliche Kritik gibt es keine Veränderung.

Jede Veränderung geht von den Unterdrückten bzw. von dem Unterdrückten aus. Man denke an die Arbeiter-oder die Frauenbewegung. Befreiungstheologien sind Basisbewegungen gegen entfremdende Herrschaftstheologien. Die Kirchenleitung bedarf des Aufstands von unten -und der wächst. Er wird von Papst Franziskus energisch gefordert und gefördert.

Aus meiner Beschäftigung mit Paläozoologie ergibt sich trotz allem ein Bild der Hoffnung: Bevor die Sauriers ausgestorben sind, kamen riesige Exemplare. Bevor die Ammoniten ausgestorben sind, entstanden Riesenammoniten. Und bevor die klerikalen Herrschaftsformen aussterben, blähen sie sich noch mal kräftig auf.

Der Autor, Theologe und Psychoanalytiker, ist Lehranalytiker sowie Professor an der Sigmund Freud Privatuniversität (SFU) Wien

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung