"Sind keine Minderheit"

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Budapests selbstbewusste jüdische Gemeinde.

Es gibt immer einige, die uns nicht mögen; die gibt es überall auf der Welt", sagt Peter Stern, Besitzer der "Szóda-Bar".

Die "Szóda-Bar" in der Wesselényi utca im alten jüdischen Viertel Budapests gilt als eine der "In-Bars" der ungarischen Hauptstadt. "Wir sind Juden und haben jüdische Freunde. Aber das Publikum mischt sich. Es ist ein friedlicher Platz", sagt der gut 30-jährige Lokalbesitzer. Noch nie hätte er wegen seines Glaubens Unannehmlichkeiten gehabt. Und dennoch steht immer einer vor der Türe der "Szóda-Bar", um ungebetene Gäste fernzuhalten. Denn Verbalattacken und antisemitische Äußerungen sind auch in Budapest heute Realität.

Peter Stern steht exemplarisch für jene junge Generation von ungarischen Juden, die selbstbewusst zu ihrer Tradition stehen. Was das genau heißt, bleibt offen. Die Bar ist am Schabbat auf jeden Fall nicht geschlossen, aber an der Eingangstüre hängt eine Mesusa, die traditionelle Schriftkapsel, die das Sch'ma Jisrael, das jüdische Glaubensbekenntnis enthält.

100.000 Juden in Ungarn

Ungarn beherbergt Europas viertgrößte jüdische Gemeinde: Etwa 100.000 Juden leben hier, 90 Prozent davon in Budapest. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren es eine Million - mehr als 600.000 von ihnen überlebten die Schoa nicht.

In der jüdischen Gemeinde Budapests sind zwei Strömungen wichtig: das Entwickeln eines starken Selbstvertrauens einerseits und das Gedenken an die Opfer des Holocausts andererseits. Diese beiden Ziele verfolgt auch das Bálint-Haus in der Revay Utca, zwischen Stephanskathedrale und Oper. Das Bálint-Haus ist ein jüdisches Kulturzentrum. Gegründet wurde es vor 10 Jahren. Bei den Budapester Juden gilt es als "Haus der Hoffnung". Geleitet wird es vom Psychologen Miklós Fischer, der jahrelang Holocaust-Opfer und ihre Nachfahren betreut hat.

"Unser Haus soll natürlich auch an den Holocaust erinnern", sagt Fischer, "unser vorrangiges Ziel ist es aber, für die Zukunft zu arbeiten. Wir feiern die Gedenktage, aber unser Programm ist geprägt von einer Fülle von kulturellen Veranstaltungen, von speziellen Angeboten für Kinder und Jugendliche."

Im Bálint-Haus mischt sich die Generation der Holocaust-Überlebenden mit der jungen Generation. "Selbstbewusstseinsbildung" ist für Direktor Fischer ein wichtiges Wort. Und "Antisemitismus". Kein Widerspruch, das eine ist die Antwort der jüdischen Bevölkerung Budapests auf das andere.

Ein weiterer Ort, an dem in Budapest jüdisches Selbstbewusstsein nachhaltig gestärkt werden soll, ist die Lauder-Yavne-Schule in einem noblen Villenviertel der ungarischen Hauptstadt. Im modernen Schulgebäude werden etwa 600 Schüler von der 1. bis zur 12. Schulstufe unterrichtet. Für die ganz Kleinen gibt es die Möglichkeit, den zur Schule gehörenden Kindergarten zu besuchen. Im Gang der Schule steht ein riesiger Chanukka-Leuchter, und im Lehrerzimmer hängen Fotos von einem Jugendcamp und von Schülern, die Austauschprogramme in Israel absolviert haben. Judaistik und Hebräisch sind Pflichtfächer - auch wenn immer mehr nicht-jüdische Kinder in die Schule kommen. Außer der Lauder-Yavne-Schule gibt es noch weitere jüdische Schulen in Budapest. - mehr oder weniger liberale und orthodoxe.

Orthodoxe und Neologen

Die ungarischen Juden teilen sich nach einem Streit im 19. Jahrhundert in drei große Gruppen: die Orthodoxen, die Neologen und jene, die dem "status quo ante" vor dem Streit anhängen. Das neologe Judentum ist eine ungarische Eigenheit. Männer und Frauen sitzen in der Synagoge im Unterschied zu den Orthodoxen auf einer Ebene und Ungarisch darf neben dem Hebräischen verwendet werden.

22 Synagogen gibt es in Budapest. Die berühmteste ist die an der Dohány utca im Zentrum, die größte Synagoge Europas und die zweitgrößte der Welt. Der riesige dreischiffige Backsteinbau im byzantinisch-maurischen Stil ist oft als "jüdische Kathedrale" bezeichnet worden. Hierher kamen und kommen die neologen Juden, um ihre Feste zu feiern und ihre Gebete zu verrichten. Der Führer erklärt den Besuchern die Besonderheiten der Synagoge, so zum Beispiel, dass sich hier ungewöhnlicherweise eine Orgel befindet, die am Schabbat von einer Katholikin gespielt wird, weil den Juden an diesem Tag jede Arbeit verboten ist. Er erzählt ihnen auch die Geschichte der ungarischen Juden.

Bereits im 3. Jahrhundert lebten Juden auf dem Gebiet des heutigen Ungarn. Von da an bis heute ist die Geschichte der ungarischen Juden eine Geschichte der Unterdrückung und Verfolgung, unterbrochen durch Phasen des sozialen und wirtschaftlichen Aufstiegs.

Kaiser Joseph II. führte 1783 ein fast unbegrenztes Niederlassungsrecht für Juden ein. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg erfolgte der große soziale Aufstieg der Juden. Nach dem Zerfall der Monarchie und den Revolutionen von 1918/19 wurde unter der Führung von Admiral Horthy der politische Antisemitismus zur offiziellen Ideologie. Die Schoa begann in Ungarn am 16. April 1944: In weniger als drei Monaten wurden 600.000 ungarische Juden in den KZs ermordet.

Das "jüdische Dreieck"

Hinter der Dohány-Synagoge liegt das alte jüdische Viertel. Im sogenannten "jüdischen Dreieck" sind neben zwei weiteren Synagogen und dem jüdischen Gemeindezentrum auch ein jüdisches Reisebüro sowie ein koscheres Hotel, ein Antiquitätenladen mit Judaica und ein Buchgeschäft zu finden.

Geht man durch die engen Straßen des Viertels, so fallen keine jüdischen Symbole auf. Auch orthodoxe schwarz gekleidete Juden mit Schläfenlocken sieht man nicht auf der Straße. Denn der Prozentsatz der Orthodoxen in Budapest ist gering. Die neologen Juden bilden die Mehrheit. Viele von ihnen treffen sich am Freitag Abend oder am Samstag nach dem Besuch der Dohány-Synagoge im koscheren Restaurant "Hannah": Hier herrscht an diesen beiden Tagen Hochbetrieb. Das Fleisch wird bei einem Schächter in Budapest gekauft, das koschere Essen insgesamt ständig überprüft. Auch die koschere Bäckerei in der Kazinczy utca steht bei Einheimischen wie bei jüdischen Touristen hoch im Kurs.

In der József körut befindet sich das berühmte Rabbinerseminar, das auch unter den Kommunisten seinen Betrieb uneingeschränkt weiterführen konnte. "Ein Feigenblatt als Signal an den Westen", sagt Rabbi Tamás Verö, der selbst dort studiert hat. Seit dem Jahr 2000 ist der neologe Jude Oberrabbiner der Synagoge in der Frankel Leó utca im Stadtteil Buda. Sie gilt als eine "typisch ungarische Synagoge", das heißt, der neugotische Bau ist von der Straße aus nicht zu sehen.

Denn die Synagoge ist von Wohnhäusern umgeben, die acht Stockwerke hoch sind. Sie wurde im 19. Jahrhundert gebaut und bietet 500 Menschen Platz.

"Nach der Wende von 1989 kamen viele", erzählt der junge Rabbiner. "Es war wie ein Strohfeuer. Das ist jetzt stark zurückgegangen. Wir müssen Angebote auf sehr hohem Niveau machen, um attraktiv zu sein." Auch Verö geht es um die nachhaltige Bildung und Stärkung des Selbstvertrauens, der jüdischen Identität. Richtig definieren kann aber auch er diese beiden Begriffe nicht. Faktum aber ist, dass die Kindergruppen in den jüdischen Kulturzentren, die Schulen, das jährlich stattfindende Jugendcamp in Sarvas und organisierte Aufenthalte in Israel identitätsstiftend und verbindend sind. Mit Aussagen über den Antisemitismus in Ungarn ist er vorsichtig. Aber seit er in öffentlichen Verkehrsmitteln verbal attackiert wurde, trägt er seine Kippa nicht mehr auf der Straße und benützt das Auto. Er hat eine Gruppe gegründet, die in Schulen geht und versucht, antisemitische Vorurteile abzubauen. "Manchmal sieht man Hass in den Augen der Schüler", sagt er.

"Judapest" heute

"Ungarische Juden" oder "jüdische Ungarn"? Eine grundlegende Frage, mit der sich auch Paul Lendvai in seinem Buch "Die Ungarn" auseinandergesetzt hat: "Die ungarischen Juden bildeten keine separate Volksgruppe oder nationale Minderheit, sondern waren ein integraler Bestandteil der politischen Nation", schreibt Lendvai. Er weist auf ihre Identifizierung mit der ungarischen Nationalbewegung ebenso hin wie auf die Übernahme der Sprache und der ungarischen Kultur. Das ist auch der Grund, warum die jüdische Gemeinschaft 1993 nicht den Status einer Minderheit angenommen hat. Diese Haltung hat die ungarischen Juden einige Privilegien und finanzielle Unterstützung gekostet, die der Staat den eingetragenen Minderheiten sonst zusichert.

"Judapest" nannte der antisemitisch eingestellte Wiener Bürgermeister Karl Lueger die Stadt. Heute steht dort auch das erste Holocaust-Memorial-Center im ehemaligen Ostblock. Eröffnet wurde es im April 2004, dem 60. Jahrestag des Beginns der Deportation ungarischer Juden.

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