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Sind Luthers Thesen heute noch aktuell?

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Vor 450 Jahren, am 18. Februar 1546, starb der Mönch Martin Luther. Eine Kirchenspaltung lag nicht in seiner Absicht.

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Vor 450 Jahren, am 18. Februar 1546, starb der Mönch Martin Luther. Eine Kirchenspaltung lag nicht in seiner Absicht.

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Als Martin Luther, Student der Rechtswissenschaften, am 2. Juli 1505 auf dem Weg nach Erfurt fast von einem Blitz erschlagen worden wäre, rief er die heilige Anna an und gelobte, Mönch zu werden, sollte er dem Gewitter heil entkommen. 34 Jahre später, im Juli 1539, kam er in einer seiner Tischreden darauf zurück: Gott habe damals seinen Hilferuf hebräisch verstanden; denn Anna bedeute: unter der Gnade, nicht unter dem Gesetz zu stehen.

Zwischen dem frühen Entschluß und der späten Interpretation liegen die Jahrzehnte der Beformation, der Polemik zwischen Rom und Wittenberg: Dazwischen liegt aber auch der existentielle und theologische Weg eines entschlossenen Gottsuchers, der mit Paulus vom Gesetz zur Gnade gefunden hatte, von der moralischen Überanstrengung zur Einsicht in seine Grenzen, vom Selbstzweifel zur Gewißheit des Glaubenden.

Was sich in diesen Jahrzehnten an unwiderruflicher Kirchenspaltung entwickelt hatte, l^g nicht in der Absicht des Reformators. Luther war kein Kirchenpolitiker, so sehr er es in der Konsequenz seiner Überzeugung sein mußte. Luther war ein eminenter Theologe, dem die Erfahrung mit sich selbst in Konfrontation mit der Heiligen Schrift den Stoff des Nachdenkens und der Glaubenserkenntnis lieferte.

Daher lassen sich Biographie und Theologie bei Luther nicht trennen. Der Volksmund nennt heute die Evangelischen gerne die liberale Variante des Christentums, wo alles erlaubt und vergeben werde. Mit solcher billigen Gnade hat Martin Luther nichts zu tun. Er nahm sein Gelübde ernst, er versuchte, ein Klosterleben der radikalen Selbstdisziplin zu führen; er schenkte sich nichts, er trieb das Konzept der Vervollkommnung bis an die Grenze des Menschenmöglichen. Erst dadurch lernte er einsehen, daß der neue Mensch kein Produkt des alten sein kann.

An dieser Stelle geriet Luther mit seinem Zeitgenossen Erasmus von Rotterdam in Konflikt. Der Humanist glaubte an die Vervollkommnung, ja Vergöttlichung des Menschen, wenn dieser nur wolle und sich immer strebend bemühe; und er gibt sich so rückblickend als Vorläufer der aufgeklärten Fortschrittsidee und der säkularen Heilslehren seither zu erkennen. Luther, in seiner Kampfschrift gegen Erasmus „Vom unfreien Willen", hielt dagegen, was er selbst durchlebt hatte: Daß auch das beste Wollen nicht vor Irrtum und falschen Zielen schütze und daß der Mensch seine Grenzen nicht ungestraft überschreite; später, in einer Psalmenvorlesung von 1532, sprach er von den „Gemsensteigern", die hoch hinaus wollen und dabei riskieren, sich den Hals zu brechen.

Der idyllische Vergleich darf über die Aktualität der Sache nicht hinwegtäuschen. Die Kirche stand damals und steht heute in Gefahr, Gott an Orte und Handlungen, an Personen und Ämter festzubinden. In den Jahrhunderten danach waren es Volk oder Rasse, Nation oder Klasse, die von politischen Ideologien mit unverhohlenem messianischen Anspruch absolut gesetzt wurden. Die halsbrecherischen Folgen sind bekannt. Dagegen steht am Beginn der Neuzeit Luthers Protest: gegen einen illusionären Humanismus ebenso wie gegen eine Kirche, sofern sie beide zur kritischen Selbstbetrachtung ihrer Grenzen nicht fähig sind, sich in das Geschäft Gottes einzumischen und damit eine totalitäre Zwangsbeglückung ins Werk setzen.

Schon in der Schrift gegen Erasmus stellt sich Luther der Frage der späteren aufgeklärten Beligionskritiker: Wie kann Gott, wenn es ihn gibt und wenn er ein guter Gott sein will, die Unvollkommenheit der Welt und das Leiden der Unschuldigen zulassen? Luther antwortet mit dem Hinweis auf den verborgenen Gott, der sich dem Maßstab unserer höchst menschlichen Vorstellungen nicht unterwerfen läßt. Unsere irrtumsanfällige Vernunft kann nicht alles erkennen, aber wenn Gott sich ihr verbirgt, muß er deshalb nicht abwesend sein. Die Frage an Martin Luther, wo Gott in Auschwitz oder in Bosnien war, ist nur scheinbar anachronistisch. Die „Gemsensteiger", die die Welt von al -lern säubern wollen, was sie für Schmutz halten, brechen nicht nur den eigenen Hals, sondern auch die Hälse der anderen. Und sie tun es, weil sie ihje eigenen Grenzen nicht ertragen und den verborgenen Gott mit dem abwesenden verwechseln.

Aus dieser Grundfigur christlicher Kreuzestheologie entwickelt Luther seine Wahrnehmung der Welt. Wo zeigt sich Gott? Gerade nicht in den großen halsbrecherischen Ideen, auch nicht in den Begriffsgebäuden der scholastischen Theologie, nicht in der Gottsymbiose mystischer Erfahrung, sondern - „in Windeln". Die begrenzte Gestaltungskraft des Menschen im alltäglichen Leben, in der Ehe, in der Gemeinschaft, in der Politik ist das Feld der tragbaren Verantwortung und der Oasen gelungenen Lebens. Man „müsse tun, soviel man kann, und nicht ablassen; das andere gehen lassen, wie es geht, und Gott befehlen", schreibt Luther 1527 an Kurfürst Johann. Wer menschlich bleiben will, muß auch etwas annehmen und empfangen können: die Gnade, in der sich Gott zeigt. Den verborgenen Gott zu enträtseln, ist unsere Sache nicht.

Diese sich bescheidende Hingabe und die tiefe Skepsis Luthers gegenüber „heiligen" Ämtern und Institutionen schlägt sich bis heute in der Verfassung der lutherischen Kirchen nieder. Der Mangel an hierarchischer Geschlossenheit mag in einer Welt der Institutionen eine Schwäche darstellen; er hindert andererseits daran, die Kirche mit dem Beich Gottes zu verwechseln. Damit wird ein Zeugnis Luthers auch in der ökumenischen Begegnung der Kirchen heute weitergegeben: die Warnung vor der Vergötzung der endlichen Gestalt der Kirche und davor, den verborgenen Gott zu schnell aufklären oder für tot erklären zu wollen.

Die Autorin ist

Professorin für Praktische Theologie und Religionspsychologie an der Universität Zürich.

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