Sippenhaftung für Muslime
Warum werden hierzulande alle mit muslimischen Wurzeln ohne Unterschied unentwegt aufgefordert, sich öffentlich gegen kriminelle Aktivitäten von Muslimen zu stellen?
Warum werden hierzulande alle mit muslimischen Wurzeln ohne Unterschied unentwegt aufgefordert, sich öffentlich gegen kriminelle Aktivitäten von Muslimen zu stellen?
Während in den letzten Jahren unter dem Integrations-Staatssekretariat Sebastian Kurz und der Innenministerin Johanna Mikl-Leitner Diffamierungen des Islam und Pauschalverdächtigungen von Gläubigen abgenommen haben, so erleben sie in den letzten Wochen eine neue Blüte und neue Dimensionen.
Befeuert werden sie von Prominenten der Islamkritik und nicht zuletzt von Leuten mit islamischem Hintergrund wie Necla Kelek und Hamed Abdel-Samad, wobei die Wortspenden von Personen mit islamischem Hintergrund besonders einflussreich sind. Vielleicht verfolgt der eine oder die andere ja bloß das Ziel, Bücher und Auftritte zu verkaufen, und streitet daher für eine Meinung, die ohne viel Aufwand breite Zustimmung in verunsicherten gesellschaftlichen Gruppen findet. Jedenfalls wird ihren Äußerungen Gewicht beigemessen, weil sie durch das biografische Detail der Abstammung von muslimischen Eltern scheinbar über Expertise verfügen.
Medienrummel um Ex-Angehörige des Islam
Aber warum eigentlich? Warum ist ein Muslim unweigerlich Islamexperte? Gläubige sind noch keine Theologen, eine Jüdin ist keine Judaistin, Hindu und Buddhisten sind keine Religionswissenschaftler. Agnostiker und Atheistinnen sind auch keine Spezialisten, doch um Ex-Angehörige des Islam und sonstige Islam-Hasser herrscht viel Medienrummel, auch wenn sie über keinen wissenschaftlichen Hintergrund oder entsprechende berufliche Praxis verfügen.
Bis vor Kurzem ist von der sogenannten Islam-Kritik und den einschlägig bekannten Boulevard-Blättern die gesamte Religion mit ihren verschiedenen Strömungen als Ganzheit verunglimpft worden. Inzwischen haben alle dazu gelernt. Jetzt wird differenziert. Selbst die unbedarftesten Neulinge wissen, dass IS nicht Mainstream-Islam ist, dass die meisten Angehörigen des Islam im Keller keine Bomben basteln und nicht nach Syrien reisen, um dort als Kanonenfutter der Anti-IS-Allianz den Märtyrertod zu erleiden und sogleich ins Himmelreich aufzufahren. Die neue Facette der Islamkritik besteht darin, dass Muslime und Musliminnen kollektiv in die Pflicht genommen werden, die terroristischen Gräueltaten zu verurteilen. Terroristen begehen Verbrechen und alle Personen gleichen Glaubens teilen eine Kollektivschuld. Du bist Muslim? Distanziere dich! Das ist Sippenhaftung.
Niemand verlangt von allen Staatsangehörigen Österreichs, dass sie sich distanzieren, wenn irgendwo auf der Welt Österreicher Verbrechen begehen. Niemand verlangt von allen Geistlichen, dass sie sich distanzieren, weil es Fälle von Kindesmissbrauch unter Geistlichen gibt. Niemand verlangt von allen Personen eines Namens, dass sie sich distanzieren, weil jemand gleichen Namens krimineller Handlungen verdächtig ist. Niemand verlangt von den Familienangehörigen eines mutmaßlichen Mörders oder Bankräubers, dass sie sich persönlich rechtfertigen.
IS findet Stimmung vor, die er braucht
Aber alle mit muslimischen Wurzeln, praktizierend oder nicht, gläubig oder nicht, werden ohne Unterschied von Bildung, Geschlecht, Beruf und Herkunft unentwegt aufgefordert, sich öffentlich gegen die medial gerade aktuellen kriminellen Aktivitäten von Personen gleichen Glaubens zu stellen.
Dabei gibt es soziologische, politologische, sozialanthropologische und islamwissenschaftliche Forschungsarbeiten, die gesellschaftliche Ursachen dafür geltend machen, dass die gerade hippe Jugendkultur darin besteht, im Nahen Osten den Köpfeabschneidern die Kalaschnikow zu putzen oder andere niedere Hilfsdienste zu leisten, die im Terroristenalltag anfallen. Dass Schulkinder aus Zwängen ausbrechen und dabei in anderen Zwängen landen, ist nichts Neues, auch nicht, dass sie Opfer von Gewaltkulturen werden. Das ist in allen Kriegen zu beklagen.
Es gibt eine gesellschaftliche Verantwortung diesen Minderjährigen gegenüber. Sie liegt darin, ihnen Perspektiven zu bieten. Sie fühlen sich aber an die Ränder gedrängt. Im Alltag erleben sie Anfeindungen, Diskriminierungen und werden grundlos beleidigt. Es fehlt eine Gemeinschaft, die Halt bietet. Da haben die Anwerber leichtes Spiel. Wer ein T-Shirt trägt mit der Aufschrift "Ich bleib Ghetto", klagt an, nicht zu Unrecht, denn die gesamtgesellschaftliche Verantwortung besteht darin, für deprivierte Jugendliche Strukturen zu schaffen, dass kriminelle Heilsangebote für sie nicht attraktiv sind. Erst dann, wenn solche Strukturen bestehen und angenommen werden, wenn Minderjährige sich ernst genommen fühlen und eine Zukunft mit individuellen Gestaltungsmöglichkeiten vor sich sehen, kann man die Eigenverantwortung der Person einmahnen, zwischen Recht und Unrecht zu entscheiden.
Die IS-Führung jedenfalls kann mit ihren bisherigen Erfolgen in Europa zufrieden sein. Das Misstrauen, das dem Islam entgegengebracht wird, der Generalverdacht, unter den seine Angehörigen gestellt werden, ist genau die Stimmung, die sie braucht, um hierzulande eine fünfte Kolonne zu installieren. Und bekanntlich sind nicht nur Muslime und Musliminnen ihre Zielgruppe für Rekrutierungen und ideologische Unterwanderung.
Der Autorin ist u. a. Kultur- und Sozialanthropologin an der Universität Wien
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