"Solidarisch ist die Mafia auch"

Werbung
Werbung
Werbung

Damit nicht Eigennutz und Festungsdenken die EU bestimmen, plädiert der Innsbrucker Pastoraltheologe Paul Wess für eine "Solidarität des Wohlwollens", die auf universaler Nächstenliebe basiert.

Die Furche: Herr Dozent Weß, ist Solidarität aus Eigennutz ausreichend für das Zusammenleben der verschiedenen Nationen und Kulturen in der Europäischen Union?

Paul Wess: Nicht genügen kann eine Solidarität als Zusammenschluss unter dem Gesichtspunkt "Was bringt es mir, was haben wir davon?". Sie würde auch nur solange halten, als man dadurch Vorteile erwarten kann.

Die Furche: Ist sie nicht die meistverbreitete Form von Solidarität?

Wess: Ja, und in diesem Sinn ist auch die Mafia solidarisch, freilich auf kriminelle Weise. Die eu braucht eine andere Solidarität. Denn sie verlangt auch Opfer, von den reicheren Ländern zunächst mehr, als sie ihnen Nutzen bringt. Außerdem misstrauen die Menschen im bloßen Vorteilsdenken einander. Sie nehmen an, dass auch bei den anderen nur der Eigennutz regiert. Das führt im besten Fall zu Geschäften auf Gegenseitigkeit, wie wir es beim Feilschen um das eu-Budget erlebt haben; oder zu Allianzen, in denen sich einige auf Kosten der anderen zusammenschließen - denken Sie an die Transitfrage...

Die Furche: Welche Form der Solidarität braucht es dann?

Wess: Es braucht eine Solidarität des Wohlwollens mit der Grundeinstellung, den anderen grundsätzlich um seiner selbst willen gutzuheißen und so wichtig zu nehmen wie sich selbst.

Die Furche: ... auch wenn ich mir davon keinen Vorteil erwarten kann?

Wess: Auf Dauer gesehen wird es schon Nutzen bringen, aber vielleicht erst für unsere Nachkommen. Hier geht es um Nächstenliebe (Liebe nicht als Gefühl verstanden, sondern als Wohlwollen). Und die Liebe sucht nicht ihren Vorteil, sondern den gerechten Ausgleich. Allerdings wird auch diese Solidarität letztlich nur unter Gleichgesinnten voll wirksam werden. Denn sie verlangt nicht, dass ich mich den anderen ausliefere. Das wäre gegen die legitime Selbstliebe. Damit sind wir beim Grundproblem der europäischen Einigung: Diese Gesinnungsgemeinschaft gegenseitigen Wohlwollens gibt es noch nicht.

Die Furche: Zur Nächstenliebe hat es das "christliche Europa" also noch nicht gebracht?

Wess: Europa war in meinen Augen nie wirklich christlich, sonst hätte es keine Religionskriege, keine Weltkriege, keinen Holocaust gegeben. Das Christentum war und ist teilweise noch wie ein gesellschaftlicher Überbau, eine Konvention, aber es ist nur von wenigen entschieden gelebt worden. Nun ist die Stunde der Wahrheit, und es zeigt sich, wie sehr die nötige moralische Substanz in der Gesellschaft noch fehlt.

Die Furche: ... und vielleicht nie erreicht werden wird?

Wess: Unsere abendländische Kultur befindet sich in einer tiefen Reifungskrise. Eine soziale Ordnung, wie sie bisher notdürftig durch Autoritäten und Gesetze vorgegeben war, müsste nach einer Art Pubertätsphase wieder neu gesucht und von den Einzelnen in Freiheit übernommen werden. Die Verfassungskrise in der eu könnte ein Anlass für einen solchen Prozess sein. Doch bis jetzt wurde die "Nachdenkpause" nicht genützt.

Die Furche: Sehen Sie irgendwo Anzeichen dafür, wo dieser Reifungsprozess schon weiter fortgeschritten ist oder bereits Früchte zeigt?

Wess: Beispiele einer solidarischen Verantwortung gibt es im wachsenden Engagement der Zivilgesellschaft, im Wirken von Kirchen und ngos sowie karitativen Organisationen oder in der großen Spendenbereitschaft. Aber die Frage führt noch einen Schritt tiefer: Eine prinzipiell universale wohlwollende Solidarität setzt eine Anerkennung der vorgegebenen Würde jedes Menschen voraus und daher zumindest die Hoffnung, dass unser Leben und unsere Beziehungen grundsätzlich, also von ihrem Grund her, sinnvoll sind. Eine entsprechende Ehrfurcht gegenüber dem Geheimnis des Daseins gehört zur geistigen Basis aller Menschen guten Willens auch in Europa.

Das Gespräch führte Wolfgang Machreich.

WELCHE SOZIALE IDENTITÄT BRAUCHT EUROPA? Von Paul Weß, Czernin Verlag, Wien 2002, 141 S., brosch., e 14,

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung