Soziale Ursachen religiöser Konflikte

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Nigeria, 100 Jahre lang britische Kolonie, steht nach einem halben Jahrhundert Unabhängigkeit vor einer Welle der Gewalt. Bischof John Okoro erläutert im FURCHE-Interview ihre Ursachen.

Für John Okoro, geboren in Nigeria und Bischof der Altkatholischen Kirche in Österreich, schüren Korruption und Vetternwirtschaft den blutigen Kreislauf der Vergeltung in Nigeria.

Die Furche: Die Gräueltaten zwischen Nigerias Muslimen im Norden und Christen im Süden scheinen in einer Endlosschleife gefangen. Die Außensicht zeigt einen sich zuspitzenden Religionskrieg, der das Land zu spalten droht. Ist dies zutreffend?

John Okoro: Nein. Nigerias Menschen leiden unter einer ungelösten sozialen Frage. Das Geld aus dem Ölreichtum ist in den Händen weniger Familienclans. Die Mehrheit der Menschen, etwa 90 Prozent, ist arm, ohne Aussicht auf Arbeit, von der man leben oder gar eine Familie ernähren kann und ohne Chance auf sozialen Aufstieg. Wer arm und hungrig ist, der schreit, und das ist auch berechtigt. Wen wundert es, dass unter diesen Umständen die Korruption so tief verankert ist. Sie ist tatsächlich das größte Problem Nigerias. Wer Macht hat, ist korrupt, egal welcher Religion oder Volksgruppe er angehört. Die Menschen haben einfach genug von diesen untragbaren Zuständen und der Perspektivlosigkeit ihres Daseins.

Die Furche: Wo liegen die geschichtlichen Ursachen für die verständliche Wut der Ausgebeuteten, die schließlich zum Symptom des "Angry young man“ führen?

Okoro: Die britische Kolonialmacht raubte das Land aus. In deren Fußstapfen traten nigerianische Oligarchen und tun seither dasselbe. Die politischen und sozialen Strukturen blieben seit damals weitgehend unverändert. Man hat sich nie die Mühe gemacht, die vielen Ethnien, Religionen und Mentalitäten der Menschen zu integrieren. Die jeweiligen Volksgruppen bleiben unter sich, misstrauen einander zutiefst und kommt jemand in eine politische Funktion, steht er unter Zugzwang, Jobs und Privilegien unter seinen Familienmitgliedern aufzuteilen. Das ist für Europäer nur schwer zu erklären. Auch ich wurde massiv unter Druck gesetzt, Verwandte und Bekannte mit Jobs und Geld zu versorgen. Das zeigt sehr gut, was ich Blutverwandtschaftsmentalität nenne. In diesem sozialen Spannungsfeld waren und sind alle Konflikte beheimatet. Und da macht es überhaupt keinen Unterschied, ob jemand Christ, Muslim, Animist, oder Angehöriger einer der vielen anderen Glaubensgruppen ist. Alle handeln gleich.

Die Furche: Sie zeichnen ein klammes Szenario strukturell-sozioökonomischer Verworfenheit. Sehen Sie eine Exit-Strategie?

Okoro: Ich habe viele Jahre darüber nachgedacht, weil ich die Situation sowohl von innen als auch von außen betrachte. Aber meine Meinung ist: In Nigeria wird es immer Kriege geben.

Die Furche: Das klingt wenig ermutigend.

Okoro: Aber das ist meine ehrliche Einschätzung, denn die Ungerechtigkeit ist riesengroß und die Art und Weise wie mit Menschen umgegangen wird, diabolisch. Nigerias Demokratie ist reines Lippenbekenntnis und praktisch inexistent, weil die Mehrheit dagegen ist. Wer Kritik übt, wird mundtot gemacht oder hat noch Schlimmeres zu erwarten. Gut ausgebildete Leute gehen ins Ausland. Zurück bleibt ein ökonomisch und intellektuell ausgeblutetes Land.

Die Furche: Kehren wir dennoch auf den als religiös punzierten Konflikt zurück. Wer hat Interesse an der nicht enden wollenden Gewalt, wer finanziert die Kämpfer?

Okoro: Bei den jungen Muslimen im Norden, die manche zu Sündenböcken abstempeln, ist die Armut am stärksten ausgeprägt. Sie sind ideologisch leicht verführbar. Die Religion dient dabei nur als Vehikel für politisch motivierte Massaker, die muslimische Drahtzieher für wenig Geld finanzieren. Jeder kann dort für ein paar Euro junge Männer für Entführungen oder Morde anheuern. Deshalb bin ich so enttäuscht von den nigerianischen Politikern und ihrer Scheinheiligkeit. Mir scheint, niemand hat Interesse an dieser Situation etwas zu ändern.

Die Furche: Stimmt es, dass sich die Christen Nigerias als Alteingesessene fühlen, während man die Muslime im Norden als Zuwanderer betrachtet?

Okoro: Die Briten etablierten ein Schulsystem mit Allgemeinbildung auf Basis christlicher Wertevermittlung. Viele Muslime nennen das satanisch. In den Koranschulen beschränkt man sich auf die religiöse Indoktrination, weil man alles Westliche ablehnt. Das Widersprüchliche daran für mich ist aber: Auch muslimische Fundamentalisten fahren Auto, telefonieren, nutzen Computer und viele andere Errungenschaften der westlichen Welt. Ist das nicht paradox?

Die Furche: Der religiöse Extremismus scheint aber auch in seiner christlichen Spielart in Nigeria durchaus beheimatet.

Okoro: Das ist richtig und gleichzeitig traurig. Evangelikale Freikirchen missionieren kämpferisch und verbreiten ein beängstigendes Gottesbild. Ich war sieben Jahre lang Dozent an einem katholischen Priesterseminar in Nigeria und musste feststellen, dass der Glaube stets eng und einseitig vermittelt wird. Auch Rom ernennt nur linientreue, fundamentalistisch geprägte Bischöfe. Das trägt nicht zum Frieden bei. Es gäbe so viele hochausgebildete nigerianische Absolventen der angesehenen Theologischen Fakultät in Innsbruck. Keiner von denen wurde je Bischof in seinem Land.

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