Sparen oder weiter prassen

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Zum Dossier. Das österreichische Gesundheitswesen pendeltnach Einschätzung von Experten zwischen zwei Extremen. Erstes Szenario: Die Grenzen derFinanzierbarkeit sind bald erreicht. Es mußgespart und reformiert werden, wenn wir nichtvor den Trümmern eines einst weltweit hochgeschätzten Systems stehen wollen.Zweites Szenario: Für Gesundheit darf unsnichts zu teuer sein, denn "Gesundheit ist zwar nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts", wie ein altes Sprichwort bereits sagt.

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Zum Dossier. Das österreichische Gesundheitswesen pendeltnach Einschätzung von Experten zwischen zwei Extremen. Erstes Szenario: Die Grenzen derFinanzierbarkeit sind bald erreicht. Es mußgespart und reformiert werden, wenn wir nichtvor den Trümmern eines einst weltweit hochgeschätzten Systems stehen wollen.Zweites Szenario: Für Gesundheit darf unsnichts zu teuer sein, denn "Gesundheit ist zwar nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts", wie ein altes Sprichwort bereits sagt.

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Woran soll man sich im Gesundheitswesen orientieren? Müssen wir die Ansprüche reduzieren oder können wir weiter prassen? Der Wiener Ordinarius für Sozialmedizin, Universitätsprofessor Michael Kunze, zeichnet ein differenziertes Bild vom österreichischen Gesundheitswesen. Zwar gebe es eine Reihe von Defiziten und ungelösten Problemen, aber das seien Probleme der Struktur und nicht der Finanzierung. Geld, so Kunze, sei für Medizin immer reichlich vorhanden gewesen und das werde weiterhin so bleiben, auch wenn die Kosten steigen.

Unser Gesundheitswesen sei, bewertet der Sozialmediziner, * gut, wahrscheinlich sogar eines der besten der Welt, * teuer und wird immer teurer werden (wenn auch nicht in dem Maße wie in anderen Staaten, zum Beispiel in den USA, dessen Gesundheitssytem weit weniger effizient ist als das österreichische Modell).

* Mittel seien praktisch unerschöpflich vorhanden, weil die Kosten des Gesundheitssystems derzeit noch weit unter der Schmerzgrenze der Bevölkerung liegen.

"Warum soll das auch anders sein", fragt Kunze provokant. "Was könnte mir wichtiger sein als die Gewißheit, hervorragende Medizin zu bekommen, wenn ich sie brauche?"

Aber, so möchte man auch fragen, muß man denn nicht sparen, müssen die Aufwendungen nicht sinken, wenn wir weiter unser luxuriöses Medizinsystem, etwas abgespeckt vielleicht, aber doch behalten wollen? Sind wir nicht schon in Gefahr, an die Grenzen der Finanzierbarkeit zu stoßen? "Das", so Kunze, "ist wohl das einzige eherne soziale Naturgesetz: Die Aufwendungen für Gesundheit werden immer steigen. Warum auch nicht?"

Das Hauptproblem sieht der Sozialmediziner darin, daß medizinische Leistungen derzeit ungerecht verteilt sind. Es gibt Sieger und Verlierer.

Dem stimmt auch die Berliner Sozialmedizinerin Professorin Ruth Mattheis zu. Das Vorhandensein ausreichender medizinischer Angebote hätte noch nichts mit deren gerechter Verteilung zu tun. Mattheis sieht ebenfalls ein Problem bei der Ressourcenverteilung: Wie kann ich die vorhandenen Mittel gerecht so verteilen, daß alle davon profitieren?

Das aber ist eine ethische Frage; denn wirklich gerecht verteilen kann man nie. Dann würden alle das Maximum bekommen, und dieser Anspruch würde tatsächlich die Gesundheitsbudgets sprengen.

Die ethische Frage nach der Ressourcenverteilung weist auf ein Dilemma hin, eine Situation, ohne ausreichende Antwort. Es gibt nur mehr oder weniger schlechte Lösungen, aus denen es die am wenigsten schlechte auszusuchen gilt. Anders gesagt: Im Gesundheitswesen bleibt immer jemand als Verlierer übrig. Einige profitieren (und wir werden noch sehen, wer diese Sieger sind), andere passen nicht ganz ins System.

Mattheis vertritt die Ansicht, man müsse die vorhandenen Mittel so streuen, daß die größtmögliche Menge Menschen etwas davon hat: "Ich bekenne mich zu den Utilitaristen und stelle mir die Frage: wie erreiche ich den größtmöglichen Nutzen für die größte Zahl der Bevölkerung. Das ist ohne Zweifel ein Umlenken der Mittel in die Grundmedizin".

Das allerdings ist so ziemlich das Gegenteil der medizinischen Tendenzen in einem Land wie Österreich. Hier glänzen die Dozenten, Professoren und Primarii am liebsten durch spektakuläre Spitzenmedizin, der ein überproportionaler Anteil des Budgetkuchens zugeschoben wird. Die Allgemeinversorgung, vor allem jene der Langzeit-, chronischen und alten Patienten wird ausgehungert. Die ausreichend vorhandenen Mittel werden also ungerecht verteilt. Nun stellt sich die Frage: Nach welchen Regeln erfolgt diese Art der Verteilung? Gibt es überhaupt solche Regeln?

"Die Mittel", meint Sozialmediziner Kunze, "werden entsprechend dem mehr oder weniger guten Lobbying der Betroffenen verteilt. Die Verfügbarkeit von Medizin in Österreich erfolgt in vielen Fällen nicht nach rationalen Gesichtspunkten, sondern nach emotionalen." Anders gesagt: Wer am lautesten und wirkungsvollsten schreit, bekommt am meisten, setzt sich am ehesten durch. Kunze nennt Beispiele: * Illegale Drogen und deren Bekämpfung - dafür gibt es gibt es kaum Grenzen der Unterstützung.

* AIDS - für relativ wenige Infizierte in Österreich werden alle Mittel eingesetzt, deren man nur habhaft werden kann. Das geschieht zurecht, keine Frage. Aber wieso ist es bei anderen Krankheiten, von denen viel mehr Menschen ebenfalls mit dem Tod bedroht werden, vergleichsweise so still?

* Wieso gibt es kaum Mittel für Lungenkrebskranken, Opfer des Tabakkonsums, die still sterben? Sie lehnen sich nicht auf.

"Die anderen, die haben sich aufgelehnt, und sie waren durch Lobbying erfolgreich. So funktioniert eben die Gesellschaft - nach den physikalischen Regeln von Druck und Gegendruck," erklärt Kunze.

Verstehen kann man diese Gesetzmäßigkeit nur, wenn man die Medizin als jene hoch emotionale Disziplin versteht, die sie für die meisten Menschen ist. Angst ist das vorherrschende Gefühl der Patienten. Kranke sind körperlich, geistig oder emotional gefährdet. In ihrer Lage haben sie daher nicht nur Angst, sondern auch die Bereitschaft, sehr viel zu investieren und zu opfern, um wieder gesund zu werden. Das gilt auch für einen Großteil jener Menschen, die zwar gesund sind, aber befürchten, krank werden zu können.

Die Bereitschaft, die Geldbörse zu lockern, damit "die Medizin" Fortschritte macht und man im künftigen Krankheitsfall bestmöglich versorgt wird, ist groß. Und das ist auch der Grund, warum Kunze mit einem nie versiegenden Geldstrom für medizinische Ausstattung und Hilfe rechnet.

Deswegen ist es auch von vornherein zum Scheitern verurteilt, die Medizin billiger machen zu wollen. Alle wollen das Beste, alle fürchten sich und sind voller Angst, und alle wollen aus diesem Grund wenigstens was die technische Ausstattung betrifft, auf dem letzten Stand sein.

All das zeigt ein großes Manko auf, das unser Gesundheitswesen prägt und unsere Gesundheitspolitik auszeichnet: Es gibt keinen Plan, keine Ziele, die man sich setzt, die man in absehbarer Zeit erreichen möchte. Ohne Ziel aber ist ökonomisches Handeln unmöglich.

Hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Ein fehlender Plan öffnet der Willkür Tür und Tor; was darauf basiert sind höchstens Anlaß-Maßnahmen. Wirtschaftliches Handeln kann darauf nicht bauen. Wirtschaftlich Handeln ist nämlich nicht notwendigerweise kostensparend; es heißt bloß, die Mittel sinnvoll einzusetzen oder ein Ziel mit vertretbarem Aufwand zu erzielen.

Das geschieht aber nicht. Es mangelt an Visionen. Ein Beispiel: Jeder, der sich mit der Materie auch nur ansatzweise befaßt, weiß, welche neuralgische Stellung beim alternden Menschen der Typ 2-Diabetes einnimmt. Es leben derzeit rund 700.000 Menschen mit dieser Krankheit in Österreich. Aber bis vor kurzem war man auf Berechnungen aus dem Ausland angewiesen, um die ungefähre Zahl der Erkrankten für Österreich herauszufinden. Die bisherigen Schätzungen waren nur geliehene Annahmen.

20 Jahre mußten nach der Gründung der größten medizinischen Selbsthilfeorganisation Österreichs (ÖDV, Diabetes-Selbsthilfe) verstreichen, bis heimische Gesundheitspolitiker auf die Idee kommen, man könne hier (übrigens mit wesentlich mehr Erfolg als beim Rauchen oder anderen Lebensstilkrankheiten) Krankheit schon im Ansatz verhindern.

Aber möglicherweise hatte man bisher auch nur die Worte des Sozialmediziners Kunze mißverstanden, der gesagt hat: "Wir Krankheitsvermeider und -vorbeuger haben lange Zeit einen Fehler gemacht: Wir haben geglaubt, die Medizin mit unseren Empfehlungen und Maßnahmen billiger zu machen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir produzieren Kosten, indem wir Menschen, die ansonsten früher sterben würden, älter werden lassen. Deshalb würde ich Kosten-Nutzen-Debatten nicht mehr führen, wenn es darum geht, ob wir gewisse medizinische Maßnahmen einsetzen sollen."

Das Ziel - Zugang zu allen medizinischen Leistungen ohne Einschränkungen - muß im übrigen nicht unbedingt weiterhin, so wie derzeit, ein Finanz-Problem der Allgemeinheit, des Staates, sein. Es ist im Gegenteil sehr wahrscheilich, daß schon in wenigen Jahren die privaten Geldbörsen geöffnet werden und dann im vollen Licht der Öffentlichkeit stattfindet, was jetzt schon läuft, aber im Verborgenen: Die Scheckbuch-Medizin.

Wer heutzutage das Pech hat, beispielsweise mit einer lebensbedrohenden Herzkrankheit dem nahen Tod ins Auge zu blicken, der kann seinen Platz auf der Warteliste der Chirurgen, sofern er den richtigen Mediziner findet, verbessern. Sechsstellige "Beiträge" im verschlossenen Kuvert sollen keine Seltenheit sein. "In Ängsten findet manches statt - was sonst nicht stattgefunden hat" dichtete schon Wilhelm Busch. Warum soll die Alternative nicht schon morgen lauten: Kaufen wir das geplante Auto, oder lassen wir der Oma ein neues Hüftgelenk einbauen?

In der Praxis ist die Bereitschaft der Bevölkerung, sich die nötigen Leistungen zu erkaufen, erstaunlich groß - schon jetzt. Jede Krankenschwester, jeder Arzt im Spital kann das bestätigen - sie bekommen immer wieder Bares angeboten.

Die Sonderleistungen der Medizin zeigen also ein großes Bedürfnis an. Studien zufolge sind die Österreicher bereit, etwa gleich viel in die Taschen diverser Gurus, Wunderheiler, Astrologen und in die Kassen der Apotheker und Gesundheitsläden zu investieren, wie der Gegenwert der "offiziell" verschriebenen Medikamente ausmacht - Beträge in Milliardenhöhe.

Solange ein großer Teil der Bevölkerung bereit ist, für Astrologiekurse "Die Sterne und Deine Gesundheit", für Vielfarben-Behandlungen und Biowassertauchungen sehr viel Geld springen zu lassen, solange braucht einem um die Verfügbarkeit medizinischer Mittel in unserer Gesellschaft nicht bange zu sein. Sozialmediziner Kunze dazu: "Das ganz Neue daran ist, daß jetzt die Leute beides haben wollen: Die NMR (Nuklearmagnetresonanz) ebenso wie den Schamanen."

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