Spiritualität hilft. Oder auch nicht.

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In Zeiten, in denen die Volkskirchen kontinuierlich schrumpfen, spielt "Spiritualität" auch in anderen Bereichen eine immer größere Rolle. Etwa in der Psychotherapie. Doch auch da ist längst nicht alles Gold, was glänzt.

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In Zeiten, in denen die Volkskirchen kontinuierlich schrumpfen, spielt "Spiritualität" auch in anderen Bereichen eine immer größere Rolle. Etwa in der Psychotherapie. Doch auch da ist längst nicht alles Gold, was glänzt.

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Wenn der Psychotherapeut zur Schamanentrommel greift, oder die Psychotherapeutin Reiki-Handauflegen empfiehlt, kann das für Klienten hilfreich sein - oder auch nicht. Die Frage, wie viel Spiritualität Psychotherapie verträgt, lässt sich nicht so leicht beantworten - obwohl die Frage immer wichtiger wird. Nimmt doch das Interesse an Spiritualität zu, während die Zahl der Mitglieder in Volkskirchen kontinuierlich schrumpft. Kein Wunder, dass Spiritualität daher auch in der Psychotherapie immer mehr Rolle spielt.

Doch sind Religion und Spiritualität in der Ausbildung von Psychotherapeuten ein Tabu-Thema. Zudem ist "Spiritualität" auch nicht für alle Klientinnen und Klienten hilfreich und akzeptabel. Wegen Beschwerden von Klienten hat das österreichische Gesundheitsministerium nun verordnet, dass keine "spirituellen Praktiken" als Therapie angeboten werden dürfen. Doch die Aufzählung dessen, was die Verfasser der Verordnung als "spirituell" ansehen, reicht von Heilsteinen bis Gebet, was zeigt: hier mangelt es an klaren Begriffen. Das wiederum ist kein Wunder, denn nicht nur gibt es keine von allen geteilte wissenschaftliche Definition für Religion und Spiritualität, und vor allem: es gibt auch keinen gesellschaftlichen Diskurs darüber.

Zwei Bücher, zwei Qualitäten

So könnte man sich freuen, wenn man auf ein Buch stößt, das verspricht zu zeigen, wie man mit "existenziellen Krisen und Transzendenz professionell umgehen" kann, so der Untertitel von "Psychotherapie und Spiritualität". Verfasst haben es Raphael Bonelli und Samuel Pfeifer, beide Psychiater mit langjähriger klinischer Erfahrung und in der akademischen Lehre tätig, sowie Michael Utsch, Theologe und Psychotherapeut, der bei der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen arbeitet. Angesichts des Pluralismus von Weltbildern und Weltanschauungen sollte Psychotherapie heute interkulturell sensibel agieren, meint Bonelli in der Einleitung.

Dem kann man nur zustimmen - nur wird rasch klar, dass "interkulturell sensibel" hier das Gegenteil von "emanzipatorisch und aufgeklärt" heißt und sich vor allem auf evangelikale und traditionalistische Ausprägungen des Christentums bezieht, Strömungen, denen alle drei Autoren selbst verbunden sind. "Spirituell" ist für sie nur, was traditionell christlich ist. Es gibt ein Kapitel über Besessenheit und Exorzismus im christlichen Kontext, darin endlich auch eine interkulturelle Fallgeschichte, nämlich die beiläufige Erwähnung einer islamischen Klientin. Offenbar übersehen die Autoren die unübersehbare Spannung (absichtlich?), die zwischen ihrem normativen, traditionalistischen christlichen Gestus und der interkulturellen Psychotherapie (zu der es gute Publikationen gibt) besteht.

Was unter dem Deckmantel professioneller Psychotherapie daherkommt, ist über weite Strecken reine Apologetik. Bonelli etwa fordert, dass religiöse Überzeugungen eines Klienten nicht hinterfragt werden dürfen, erwähnt aber nicht, dass solche Überzeugungen krank machen können. Nur Pfeifer zeigt Menschenliebe, wenn er etwa meint, nicht die Wahrheitsfrage, sondern der Einfluss religiöser und spiritueller Deutung auf das Wohlbefinden und die Lebensbewältigung eines Patienten sei die Frage.

Richtig erleichtert kann man dagegen "Psychologie der Spiritualität" studieren. In der Neuauflage seines Standardwerks hat der Salzburger Religionspädagoge Anton Bucher alles gesammelt, was in den letzten Jahrzehnten zu diesem Thema geforscht wurde - und das ist nicht wenig. Unterm Strich ist das Ergebnis, dass Spiritualität in der Psychotherapie oft wirksam und hilfreich sein kann, aber nicht sein muss. Auch wird deutlich, dass die wegen der Vieldeutigkeit von "Spiritualität" und "Religion" Statistiken oft diffus bleiben. Eine Untersuchung ergab etwa, dass sich mehr Menschen in Deutschland als "spirituell" bezeichnen und weniger Menschen als "religiös". In einer anderen Untersuchung bewerteten 52 Prozent der Deutschen Religion als nicht wichtig in ihrem Leben, dabei glaubten aber 47 Prozent an Gott und 25 Prozent an eine andere spirituelle Macht, und nur 25 Prozent weder an Gott noch an eine spirituelle Macht.

Buchers Überblick zeigt, dass bei der Frage nach dem Verhältnis von Spiritualität und Psychotherapie der allgemeine Religionswandel zu berücksichtigen ist. Viele Rollen, die früher Priester innehatten, werden nun von Psychotherapeuten, Sozialarbeitern und anderen besetzt. Das stellte Pierre Bourdieu bereits in den 1990er-Jahren fest.

Doch ein Psychotherapeut ist kein Priester, hielt der Lehrtherapeut Helmut van de Waal bei einer Veranstaltung zum Thema Spiritualität und Psychotherapie an der Lehranstalt für Systemische Familientherapie in Wien fest.

Die Perspektive der ersten Person

Systemische Ansätze und Methoden, wie sie hier gelehrt werden, sind u. a. eine Weiterentwicklung aus der Psychoanalyse. Die systemische Therapie arbeitet lösungsbezogen und betont die Eigenständigkeit der Klienten. "Menschen suchen Psychotherapeuten auf, weil sie in einer Krise sind, nicht, weil sie eine spirituelle Anleitung wollen", sagte de Waal. Doch gerade in einer Krise, und vor allem in Grenzsituationen wie Tod und Verlust kann ihre eigene Spiritualität für Klienten eine Ressource sein. Als Therapeut kann man nur Zeuge sein für die Sehnsucht des Klienten, vielleicht auch Begleiter bei der Suche, um Möglichkeiten abzuwägen, aber nicht mehr, betonte Helmut de Waal.

Seine Kollegin Evelyn Niel-Dolzer verwies bei der Tagung auf die Analysen des Theoretikers Gregory Bateson: gewöhnlich wird Spiritualität aus der Perspektive des Beobachters, aus der "dritten Person" beurteilt. Dabei lebt Spiritualität von der Perspektive der ersten Person, der eigenen Erfahrung. Systemische Ansätze können beides verbinden, denn wenn die Welt aus vernetzten Strukturen besteht, ist der Beobachter, der "über" etwas spricht, selbst Teil der Struktur. Als Maxime formulierte Bateson: "Wofür wir uns selbst halten, sollte vereinbar sein mit dem, wofür wir die Welt halten". Beherzigenswert!

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