Starker Wille, weiterzuleben

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Im Maimonides Zentrum, dem jüdischen Altersheim in Wien, leben auch Schoa-Überlebende. Die Judaistin Traude Litzka hat deren Geschichte(n) aufgezeichnet.

Hermine Flieger kam aus Polen über die Tschechoslowakei zurück nach Wien. Das war nach Kriegsende 1945. Nach Theresienstadt. Nach Auschwitz. Endlich wieder zurück in Wien, endlich wieder den geliebten Prater sehen. Doch die Luft war noch immer verpestet, schon bei ihrer Ankunft am Bahnhof kam Hermine Flieger der braune Gestank entgegen. "Da ist es schon wieder, das jüdische Gesindel", rief eine, "die dort geputzt hat." So hatte sich Hermine Flieger ihre Rückkehr nach Wien nicht vorstellt.

Die Angst vor dem Gas

Seit 1996 lebt die bald 90-Jährige im jüdischen Altersheim Maimonides Zentrum im 19. Wiener Gemeindebezirk. Hermine Flieger lehnt im Armsessel am Fenster ihres Zimmers, eine kleine Tischlampe spendet Licht in dem dämmrigen Raum, wirft ihren Schatten auf das dunkle, geblümte Kleid und den darauf ruhenden gelähmten linken Arm. "Der hat mir in gewisser Weise mein Leben gerettet", erzählt Hermine Flieger. Als Kind war sie in Prag an diesem Arm operiert worden, und "normalerweise wurden behinderte Menschen in Auschwitz gleich umgebracht. Aber den Mengele hat mein Arm interessiert, weil das eine seltene Muskelverpflanzung war - er hat mich elektrisch behandelt und mir Spritzen gegeben."

Viereinhalb Monate musste Hermine Flieger in Auschwitz bleiben, bis sie in einem anderen Lager zur Zwangsarbeit eingeteilt wurde. Viereinhalb Monate Auschwitz, in denen die Angst vor den Gaskammern alles dominierte. "Es gibt für euch nur einen Ausgang, nämlich den Kamin - das haben sie zu uns gesagt", erinnert sich Hermine Flieger. Die psychischen Qualen waren das Schlimmste. "Sie haben uns nackt an den Männern vorbeigeführt, haben uns alle Haare abgeschoren, den ganzen Körper, haben in allen Löchern gesucht, ob die Frauen da was verstecken." Und während der Selektion immer Kapellenmusik - die Nazis wussten, wie man die Menschen erniedrigt.

Wie sie das alles ausgehalten hat? "Ich weiß es nicht, vermutlich war es reiner Selbsterhaltungstrieb." Heute mag Hermine Flieger "gar nicht dran denken", an all die schrecklichen Erlebnisse. "Bis in die 80er Jahre habe ich jede Woche drei-, viermal davon geträumt. Ich habe dann die ganze Nacht gelesen, solche Angst hatte ich, dass sich das alles wiederholt."

Im Maimonides Zentrum kann Hermine Flieger über ihre Vergangenheit reden. Ärzte und Psychotherapeuten wissen um die Bedürfnisse der Schoa-Überlebenden und helfen, mit dem Furchtbaren fertig zu werden. Das 145-Betten-Haus ist zu rund 70 Prozent mit Juden und Jüdinnen belegt, deren individuelle Schicksale besonderer Betreuung bedürfen.

Eine, die sich der Lebensgeschichte der alten Menschen in sehr einfühlsamer Weise angenommen hat, ist die Judaistin Traude Litzka. In langen Gesprächen hat sie die Erlebnisse einiger Bewohner und Bewohnerinnen des Sanatoriums aufgezeichnet und in ihrem Buch Treffpunkt Maimonides Zentrum zusammengefasst. Auch Hermine Flieger kommt darin zu Wort, erzählt von den Schrecken in Auschwitz, von ihrer Angst, ihrem Schmerz, ihrer Hoffnung. "Die Arbeit war oft so intensiv, die Geschichten sind so in mich hineingegangen, als hätte ich es selber erlebt. Das war nicht immer leicht", erklärt Traude Litzka, die durch ihre Beschäftigung mit diesen Menschen ein sehr tiefes Vertrauen zu ihnen aufgebaut hat.

Einer ihrer "Lieblinge" ist Richard Kohn. Wie viele andere Bewohner und Bewohnerinnen des Maimonides Zentrum ist auch er erst nach Jahrzehnten im Ausland in seine Heimatstadt Wien zurückgekehrt. 51 Jahre lang lebte der 1920 geborene Wiener in Kasachstan. Gut sei es dort gewesen, meint er, doch die Kultur habe ihm sehr gefehlt. Nach dem Ende der Sowjetunion bot sich erstmals die Möglichkeit, sich woanders eine Heimat zu suchen und Richard Kohn wanderte mit seiner Familie 1993 nach Israel aus. "Das war das einzige Land, das jeden Juden annahm", erzählt er.

"Fahren wir nach Wien!"

Dass es ihn nach neun Jahren in Israel nach Wien verschlug, ist seinem ältesten Enkel zu verdanken, der den Großvater drängte: "Fahren wir nach Wien!" 2002 war es dann soweit. "Wien hatte ich immer im Kopf. Hier bin ich mit den ersten Mädchen tanzen gegangen, das ist die Stadt meiner Kindheit und meiner viel zu kurzen Jugend", schwärmt Richard Kohn wehmütig, während er seinen Rollstuhl zum Schrank lenkt, um eine Erinnerung an seinen Vater herauszuholen - eine schmerzhafte freilich.

Ein Internetausdruck mit einer Kopie der erkennungsdienstlichen Datei der Gestapo zeigt den Vater. Profil von links, von rechts, Gesicht von vorne. Das Verbrecherfoto eines Unschuldigen. Tatmotiv: 1940 betrat er ein Gasthaus, so heißt es in dem kurzen Text, und rief dort: "Ihr werdet noch Gras fressen unter Hitler und nackt herumlaufen!" Richard Kohns Eltern wurden daraufhin festgenommen.

"Das Schwerste ist, dass ich immer an meinen Vater und an meine Mutter denken muss, und wie man sie in den Tod geführt hat", klagt Richard Kohn und wirft einen Blick auf die alten Familienfotos, die an der grellgelben Wand seines Zimmers hängen. "Mein Vater hat mir einen letzten Brief geschrieben, du musst uns helfen, hat er geschrieben. Aber ich war in Lemberg, man hat mich gesucht, ich musste mich ja selbst verstecken."

Der Pferdeflüsterer

Ins galizische Lemberg war Richard Kohn nach einer abenteuerlichen Flucht aus einem polnischen Lager gelangt. Dort, in "dieser Stadt voller Flüchtlinge", versteckte er sich in einem Pferdestall, schlief mit den Tieren, putzte und pflegte sie. "Ich verstand die Pferde, ich wusste, wie man mit ihnen umgeht", so Richard Kohn. Die Kutscher dankten es ihm. Bald konnte er sein Versteck verlassen, fand eine Arbeit als Schmied und bekam die sowjetische Staatsbürgerschaft. Und dann noch die erste Liebe, Frieda hieß sie, eine Polin. Es schien aufwärts zu gehen.

Doch wieder wurde sein Leben zerrissen, die deutschen Bombenangriffe schlugen ihn in die Flucht, nach Kasachstan, wo er in den Kohlengruben arbeitete - an der "zweiten Front", wie Kohn es nennt. Russland brauchte die Kohle für die Waffen, "man hat nicht gefragt, ob Mann oder Frau, ob Lehrer oder Ingenieur, da musste jeder arbeiten." Im Bergwerk lernte Richard Kohn seine spätere Frau kennen, ein Ukrainerin. Als er dann verschüttet wurde und man sein Bein amputierte, war sie es, die ihm beistand, ihn in der Klinik besuchte. "Ich habe ein Bein verloren und eine Frau bekommen", meint Kohn ein wenig ironisch.

Richard Kohns Leidenschaft gilt heute den Briefmarken - im Foyer des Maimonides Zentrum können Besucher und Besucherinnen in einer Vitrine einen Teil seiner umfangreichen Sammlung bestaunen. "Ich muss mich ablenken. Auf den Tod warten will ich nicht, der kommt sowieso." Arbeiten, Reden, Erzählen - eine Art Therapie, um die Gräuel der Vergangenheit besser zu bewältigen.

"Was mich so an diesen Menschen fasziniert, ist ihr starker Wille zum Weiterleben", so Buchautorin Traude Litzka, "ihre Kraft und Ausdauer, das Leben positiv fortzusetzen."

TREFFPUNKT MAIMONIDES ZENTRUM Hg. von Traude Litzka

Böhlau Verlag, Wien 2006

214 Seiten, geb., € 24,90

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