Stigma der Unreinheit

Werbung
Werbung
Werbung

Viele indische Dalits, die Angehörigen der Kaste der Unberührbaren, konvertieren zu Buddhismus und Christentum, um der immer noch starken Diskriminierung zu entkommen.

Wann und wo immer Dalits in Zukunft Opfer von Unrecht oder Erniedrigung würden, sollten sie aus Protest dem Hinduismus den Rücken kehren und zu anderen Konfessionen übertreten. Dies erklärte Udit Raj (Bild unten, links), Leiter eines gesamtindischen Dalit-Verbandes mit Sitz in Neu Delhi, knapp vor Jahreswechsel.

Anlass war eine Zeremonie, bei der mehrere Dutzend Menschen in Gurgaon, nahe der indischen Hauptstadt, zum Buddhismus konvertierten. Mit diesem Schritt wollten sie ihr Entsetzen darüber zum Ausruck bringen, dass im Herbst im Dorf Duleena in dem an Delhi angrenzenden Bundesstaat Haryana fünf Dalits gelyncht worden waren, weil sie angeblich eine Kuh getötet hatten (die Furche berichtete). Der Vorfall hatte zu heftigen Debatten geführt, ob das Leben einer vom Hinduismus für heilig gehaltenen Kuh tatsächlich mehr zählen könne als das eines Menschen.

"Gebrochene Menschen"

Dalits bedeutet so viel wie "gebrochene Menschen" und ist die Bezeichnung, die ein Gutteil der rund 240 Millionen Unberührbaren heute für sich verwendet. Sie soll zum einen die Diskriminierung dieser Bevölkerungsgruppe ausdrücken, zum anderen aber auch ihre Entschlossenheit, sich gegen die Ausgrenzung zur Wehr zur setzen und um ihre Bürgerrechte zu kämpfen.

Offiziell gibt es die Unberührbarkeit dabei gar nicht mehr, sie wurde mit der 1950 promulgierten indischen Bundesverfassung abgeschafft. Dank im Grundgesetz festgeschriebener Fördermaßnahmen sowie der Mobilisierung der Unberührbaren selbst hat sich heute eine kleine Dalit-Mittelklasse herausgebildet, haben einzelne Dalits es zu großem Wohlstand gebracht, konnten Dalits politische Parteien gründen und sind eine Reihe von ihnen in hohe politische Ämter aufgestiegen.

Doch die große Mehrheit der Unberührbaren, jener Menschen also, die unter- und außerhalb des Kastensystems stehen, leben weiterhin nicht nur in größter Armut in abgesonderten Einheiten am Rand von Dörfern oder in städtischen Slums. In der auf ritueller Reinheit basierenden Hindu-Hierarchie leiden sie bis heute unter dem Stigma der Unreinheit und müssen alle mit Schmutz, Blut und toter Materie verbundenen Arbeiten verrichten wie Straßen reinigen, Kot wegräumen, verendete Tiere beseitigen, Tierkadaver häuten oder Holz für Verbrennungen von Leichnamen beschaffen und Verbrennungsstätten betreuen.

Schlechter als Tiere ...

Der einzige Ausweg für einen Dalit "aus einer Religion, die auf einer strikten Hierarchie und damit auf Diskriminierung beruht, besteht in der Konversion", betont Raj, der in einer groß angelegten Zeremonie selbst erst vor einem Jahr zum Buddhismus konvertierte und nun eine neue politische "Gerechtigkeitspartei" ins Leben gerufen hat. "Im Hinduismus werden Dalits schlechter behandelt als Tiere; wollen sie Würde und Respekt bekommen, müssen sie zu einem anderen Glauben übertreten, sagt ein Mitarbeiter von Raj.

Neben dem Lynchen in Duleena verweist er auf einen Vorfall aus jüngster Zeit im westlichen Bundesstaat Rajasthan: Als sich dort Dalits Wasser aus einem nur den oberen Kasten vorbehaltenen Teich holen wollten, seien sie mit Stöcken angegriffen worden. "Keiner verjagt einen Hund oder ein anderes Tier von diesem Teich, aber ein Dalit würde nach dem Glauben dieser Hindus das Wasser verschmutzen." Auch in zahllosen Hindutempeln und den Hindus heiligen Stätten werde "die Unberührbarkeit von Hindu-Priestern gegen den Geist der Verfassung praktiziert, aber bis jetzt ist nicht ein einziger (Priester) festgenommen oder bestraft worden", heißt es in Voice of Buddha, der Zeitschrift des ebenfalls von Raj geleiteten Lord Buddha Club in Neu Delhi.

In der Frage, ob Konversionen tatsächlich Chance und Notwendigkeit für die Unberührbaren seien, gehen die Meinungen unter politisch, sozial und religiös engagierten Dalits freilich stark auseinander. Gegner eines solchen Schrittes verweisen stets darauf, wie sehr das Kastenwesen als das dominante soziale System die gelebte Realität auch in jenen Religionen präge, die vom Prinzip her keine derartige Hierarchie befürworten und sich zur Gleichheit aller Menschen vor Gott bekennen.

Allein die Tatsache, dass es "muslimische Dalits" und "christliche Dalits" gebe, sei Beweis für die tiefe Verwurzelung des Kastendenkens in Indien. Nicht nur Hindus, auch ihre neuen Glaubensbrüder würden konvertierte Dalits weiterhin als Unberührbare ansehen. Nicht Konvertierungen, sondern der Einsatz für eine soziale und ökonomische Emanzipation der Dalits sei vonnöten, argumentieren daher einige Dalit-Intellektuelle.

Pater Philomen Raj, Vorsitzender der Mitte der achtziger Jahre von der katholischen Bischofskonferenz von Indien eingerichteten Kommission für die Anliegen der Unberührbaren, will nicht leugnen, dass es auch in der Kirche Probleme gibt. 60 bis 70 Prozent der indischen Katholiken sind Dalits, unter den Klerikern und Entscheidungsträgern aber stellen sie lediglich fünf Prozent. "Und diese fünf Prozent sind ein großer Fortschritt, denn vor zwei Jahrzehnten gab es gar keine Dalits in der Kirchenhierarchie", betont Rajs Vorgänger Pater Lourduswamy. "Es gibt Veränderungen, es bewegt sich etwas, Dalits werden zum Bischof geweiht, die Zahl der Dalit-Priester und -Nonnen steigt."

Erster Dalit-Erzbischof

Im Jahre 2000 wurde im südlichen Hyderabad erstmals ein Dalit zum Erzbischof ernannt, wenn auch nicht ohne einige unfeine Kommentare aus höchsten Kirchenkreisen. "In der Psyche der oberen Kasten" sitze das Prinzip der Unberührbarkeit fest, sagt Lourduswamy, auch wenn die Unberührbarkeit im Sinne eines konkreten Vermeidens von physischem Kontakt immer seltener praktiziert werde. Noch aber gibt es Friedhöfe mit getrennten Abschnitten für die höheren Kasten und die Unberührbaren und bleiben einige Kirchen geschlossen, weil sich die Unberührbaren dem Gebot der oberen Kasten, bestimmte Feiertage getrennt zu begehen, nicht beugen wollen.

Gesetz gegen Konversionen

Ein so radikaler gesellschaftlicher Wandel wie die Überwindung des Kastendenkens könne sich nicht so schnell vollziehen, meint Pater Raj, bis die Gleichheit innerhalb der Christen in vollem Umfang gelebt werde, würden noch Generationen vergehen. Viel zu lange, merken politisch bewusste christliche Dalits an, habe sich die Kirche in Indien auf die Rettung der Seelen konzentriert und das soziale System unangetastet gelassen.

Doch der Wandel sei möglich, wie der allmähliche Aufstieg der Dalits beweise. Das Christentum bekenne sich zum Prinzip der Gleichheit, die zu verwirklichen sei. Deshalb würden auch weiterhin Dalits übertreten und sich nicht von Regelungen wie dem jüngst im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu verabschiedeten Gesetz gegen Bekehrungen mittels Zwang, Überredung oder Verlockung abhalten lassen. Die in Koalition auf Bundesebene regierende hinduchauvinistische Indische Volkspartei (BJP) hat bereits angedeutet, dass sie an einem landesweit gültigen derartigen Gesetz interessiert ist. Eine Reihe von Dalitorganisationen und -parteien haben aus Protest Massenübertritte zu anderen Religionen angekündigt.

Kulturelle Revolution

Mohan Larbeer vom protestantischen Theologischen Seminar in Madurai in Tamil Nadu lehnt einen solchen Schritt ab und fordert dagegen eine "Kulturelle Revolution", in der die Dalits sich von Religion und Göttern der Hindus abwenden, zurück zu ihren eigenen Dalit-Göttern und -Göttinnen finden und zugleich eine Änderung der Verfassung verlangen sollten, laut der Unberührbare, die nicht zu anderen Religionen übergetreten sind, zu den Hindus gerechnet werden.

Radikale Hindu-Gruppierungen sehen in all diesen Maßnahmen eine massive Bedrohung, sind sie doch besessen von der Idee, dass die Hindus, die derzeit 82 Prozent der einen Milliarde Inder ausmachen, eines Tages in die Minderheit geraten könnten, ob durch ein rascheres Wachstum der muslimischen Bevölkerung (derzeit 12 Prozent) oder Konversionen (derzeit 2,4 Prozent Christen und 0,8 Prozent Buddhisten).

In welchem Umfang diese künftig tatsächlich stattfinden werden, ist noch nicht abzusehen; auch die von Larbeer geforderte Revolution wird sich so schnell nicht vollziehen. Im Ringen der Dalits um ihre Menschenrechte und Menschenwürde aber ist die Religion jedenfalls zu einem wichtigen und zunehmend politisierten Instrument geworden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung