Streiten und trotzdem einig sein

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Seine letzten Worte galten der Einheit der Kirche: Auszug aus einer Rede des verstorbenen englischen Kardinals BasilHume, erschienen in der Londoner katholischen Wochenzeitung "The Catholic Herald" vom 9. Juli 1999.

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Seine letzten Worte galten der Einheit der Kirche: Auszug aus einer Rede des verstorbenen englischen Kardinals BasilHume, erschienen in der Londoner katholischen Wochenzeitung "The Catholic Herald" vom 9. Juli 1999.

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Erst vor kurzem zeichnete die katholische Presse Englands ein düsteres Bild: "Die Anzahl von neuen Berufungen geht zurück - mit Ausnahme von Eintritten in Säkularinstituten und Klöstern mit strenger Klausur" so der "Catholic Herald" vom 21.Mai 1999...

Während zum ersten Mal die Anzahl der Katholiken auf der Welt die Milliardengrenze überschritten hat, verzeichnet Europa einen Schwund praktizierender Katholiken und einen Rückgang bei neuen Berufungen. Diese Situation führt zu endlosen Debatten, die häufig auf den Titelseiten katholischer Zeitungen in England und Wales ausgetragen werden. Die einen beschweren sich über Gespräche mit anderen Glaubensrichtungen. Die anderen erklären kategorisch, daß Ökumene gefährlich sei. Wieder andere machen die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils dafür verantwortlich, daß sich die Menschen von der Kirche abwendeten, und daß es an "Gespür für das Heilige" fehle. Die nächsten meinen, daß Jugendliche die Messe immer fad und nichtssagend fänden. Die Rolle der Frau wird viel diskutiert. Einige argumentieren, daß wir wegen des Priestermangels nicht nur den Zölibat aufheben, sondern auch Frauen zum Priesteramt zulassen sollten.

Interne Streitereien Die Rolle der Frau in der Kirche ist nur ein Aspekt der Streitereien um die grundsätzliche Rolle der Laien. Auch hier kann es zu schmerzlichen Zerwürfnissen kommen. Ich bin mir sicher, daß viele von uns Erfahrungen mit Gemeinden gemacht haben, wo Pfarrer und Gläubige im Clinch miteinander liegen. Manchmal konzentrieren sich die Streitereien auf die Liturgie. Verschiedene Ansätze können Pfarrer und Gemeindeangehörige hier eher auseinanderdividieren als um einen Tisch vereinen. Es ist zu simpel, die einen als "Traditionalisten" - mit Messe im tridentischen Ritus - abzustempeln, die anderen dagegen als "Liberale" zu bezeichnen - mit rhythmischer Messe und Gitarre.

Noch zwei weitere Aspekte kirchlichen Lebens sind in England und Wales heftig umstritten: Erstens der Religionsunterricht. Leserbriefe in katholischen Zeitungen klagen, daß das Wissen über den Glauben, vor allem bei Jugendlichen, lückenhaft sei. Verantwortlich dafür seien schlechter Unterricht oder "falsche" Lehrpläne.

Der zweite Punkt betrifft den Bereich von Glaubens- und Sittenfragen. Viele stellen die Autorität der Kirche in puncto Moral in Frage. Häufig ist die Berufung auf das eigene Gewissen nur Ausdruck des privaten Urteils und leitet sich keineswegs aus objektiven moralischen Normen ab. "Es ist richtig, weil es für mich richtig ist" - das ist sogar in der Kirche allgemeiner Konsens. Ich erinnere mich an eine Erzählung Kardinal Martys über seine Begegnung mit zwei Jugendlichen nach dem ersten Besuch des Papstes in Paris: Sie waren von Papst ganz begeistert. Kardinal Marty sagte zu ihnen: "Habt Ihr dem Papst erzählt, daß ihr miteinander schlaft?" "Nein", antwortete das Mädchen. "Was hat denn der Papst damit zu tun?"

Wenn man über diese Dinge nachdenkt, ist es leicht einzusehen, warum wir einen "common ground" - eine gemeinsame Basis - für soviele Bereiche kirchlichen Lebens finden müssen. Der Ausdruck "common ground" tauchte zum ersten Mal in einem Hirtenbrief der amerikanischen Bischöfe zum Thema "Frieden als Herausforderung" auf. In dem Hirtenbrief wählten die Bischöfe diesen Ausdruck, um Pazifisten und Befürworter der Theorie vom "gerechten Krieg" einzuladen, sich bei allem Trennenden auch auf die Suche nach Gemeinsamem zu machen. Beide Parteien wollten weniger Gewalt - das war ihr "common ground", ihr gemeinsamer Ausgangspunkt.

Die "Catholic Common Ground Initiative" (wörtlich: Die Vereinigung für eine gemeinsame Basis von Katholiken) ist ein Versuch, beides zu sehen: Das, was uns eint, und das, was die Kirche der Zukunft - die Kirche des dritten Jahrtausends - braucht. Es ist überlebensnotwendig, daß wir mit starkem Sendungsbewußtsein in das neue Jahrtausend gehen. Die Sendung der Kirche ist geschwächt, wenn sie in sich uneins ist ... Ich glaube, daß die Einheit der Kirche im nächsten Jahrtausend von zwei wesentlichen Dingen abhängt: Erstens davon, ob wir der Spiritualität im individuellen und im gesellschaftlichen Leben eine Vorrangstellung einräumen. Zweitens von einer Wiederentdeckung der zentralen Bedeutung Jesu Christi als dem Weg, der Wahrheit und dem Leben. Beides gehört eng zusammen.

Ich möchte mit dem Zitat eines englischen Schriftstellers beginnen, der 1933 - als sich in Deutschland die Bedrohung durch die Nazis abzuzeichnen begann - in England folgendes schrieb: "Die große Tragödie der modernen Zivilisation besteht darin, daß materieller Fortschritt bei der Befriedigung menschlicher Sehnsüchte versagt. Die moderne Welt hat mehr Macht als je zuvor, aber sie bedient sich ihrer neuen Macht nicht nur, um Leben zu fördern, sondern auch, um zu zerstören. Was unsere Zivilisation braucht, ist weder Macht noch Reichtum noch Wissen, sondern Spiritualität ..."

Materieller Fortschritt kann menschliche Sehnsüchte nicht erfüllen. So komme ich zu einem Verständnis von Spiritualität als jenem Prozess, in dem Gott unser Herz und unseren Verstand berührt, so daß er in uns das Bewußtsein für ihn und das Verlangen nach Gemeinschaft mit ihm weckt. Ich glaube, daß jeder Mensch instinktiv nach Gott verlangt. In jedem von uns gibt es die tiefe Sehnsucht nach Glück, Wissen, Liebe, Bewunderung ...

Noch eine zweite Tatsache liegt in der Natur des Menschen: Wir sind Sünder. Wir brauchen Vergebung. Wir leiden auch unter Zweifeln, Angst und jeder Form von Schmerz. Wir brauchen Heilung. Wir brauchen jemanden, der uns leitet.

Gemeinsame Basis Das bringt uns zur Besinnung auf den, der Vergebung bringt, der heilt und Führung verheißt. Ich spreche von Jesus Christus, dem wahren Gott und wahren Menschen. Am Beginn seines öffentlichen Auftretens in der Synagoge von Nazareth las Jesus aus der Schriftrolle eine Stelle aus Jesaja vor. Als er geendet hatte, gab er die Schriftrolle dem Synagogendiener und setzte sich. Dann heißt es: "Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet" (Lk 4, 20). Jesu' Zuhörer standen also nicht nur alle auf einem "common ground", an einem gemeinsamen Ort - sie schauten auch alle in dieselbe Richtung...

Oft sind Konflikte unvermeidlich. Auseinandersetzungen und abweichende Meinungen hat es immer gegeben. An einem gesunden Konflikt ist nichts Schlimmes. Er kann einen Fortschritt bringen, wenn sich die Fronten klären. Aber eine konstruktive Auseinandersetzung darf nicht durch Gezänk ersetzt und zum Stillstand gebracht werden ...

Ich möchte die Antrittserklärung der "Catholic Common Ground Initiative" zitieren: "Anstatt einen Konsens zu finden, der aus der Kraft der Kirche Nutzen zieht und sie lenkt, laufen gegensätzliche Ansichten Gefahr, sich gegenseitig aufzuheben. Bischöfe riskieren, viel eher als Mitglieder verschiedener Lager betrachtet zu werden denn als Hirten der gesamten Kirche.

Wir wissen alle, daß es verschiedene Ansichten über die Natur der sichtbaren menschlichen Institution gibt, die sich Kirche nennt. Einige betrachten die Bischöfe als eine Art Filialleiter, die die Anweisungen des Senior- oder Firmenchefs ausführen. Andere wiederum meinen, daß der Papst nicht mehr als irgendein anderer Bischof sei. Beides ist falsch. Obwohl die Kirche durch alle Zeiten hindurch verschiedene Gesichter hatte, gibt es einige Dinge, an denen wir festhalten müssen: am Primat des Nachfolgers Petri und an der Treue zu Schrift und Tradition ...

Ich habe von einer Wiederentdeckung der Spiritualität gesprochen, von Jesus Christus als dem Zentrum der Kirche und von der Treue zu ihr. In diesem Dreieck ... muß Dialog stattfinden. Ich verstehe unter Dialog, daß man gemeinsam nach der Wahrheit forscht ...

Wir sollten uns unter der Führung des Heiligen Geistes miteinander auf die Suche nach dem Willen Gottes machen, und uns darüber im klaren sein, daß wir immer vor der Schrift, vor der Tradition und vor dem Lehramt Rechenschaft ablegen müssen. Dialog beinhaltet gegegenseitiges Zuhören und Respekt voreinander; den gemeinsamen Versuch, eine tiefere Wahrheit zu finden, und ihr so Ausdruck zu verleihen, daß sie das Volk Gottes einen und verwandeln kann. Es wäre unverschämt von mir zu behaupten, daß ich die Unterschiede einebnen kann, die unsere Leute so leicht auseinanderbringen. Ich kann das nicht. Ich weiß jedoch, daß wir die Chance haben, eine Antwort auf die Stimme des Heiligen Geistes zu finden, wenn wir beginnen einander zuzuhören. Dialog wird uns einen, auch wenn er möglicherweise nicht alle Probleme lösen kann. Dialog ist ein erster wichtiger Schritt.

Übersetzung aus dem Englischen von Angelika Walser.

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