Strittiges Konsenspapier

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Der rechtsstaatliche Gewinn durch die Ratifizierung der Biomedizin-Konvention des Europarates überwiegt ihre Mängel

Die Konvention über Menschenrechte und Biomedizin des Europarates (MRB) liegt seit 1997 zur Ratifikation auf und ist am 1. 12. 1999 völkerrechtlich in Kraft getreten. Sie stellt den einmaligen Versuch dar, ein verbindliches europaweites Regelungswerk für zwar nicht alle, aber doch einige zentrale Bereiche der Medizin zu etablieren. Ihr Ziel ist, in Fortentwicklung bestehender Grundrechtsdokumente präzisere völkerrechtliche Mindeststandards zum Schutz des Individuums gegenüber neueren Entwicklungen und Bedrohungen in Biologie und Medizin zu schaffen.

Die im Einzelnen geregelten Aspekte betreffen etwa den Schutz der Patientenautonomie, Schutzbestimmungen für Minderjährige und psychisch Kranke, den Zugang zu gesundheitsbezogenen Daten, prädiktive genetische Tests, Eingriffe ins menschliche Genom, die medizinische Forschung am Menschen, Organ- und Gewebstransplantationen vom lebenden Spender sowie die Verwendung menschlicher Körpersubstanzen. Ein Zusatzprotokoll enthält ein Verbot des Klonens von Menschen. Zwei Zusatzprotokolle zur Transplantation sowie zur biomedizinischen Forschung liegen als Entwurf vor. Weitere Zusatzprotokolle zum Embryonenschutz und zur Humangenetik sind geplant.

Die Konvention wurde von der überwiegenden Mehrheit der Europaratsstaaten unterzeichnet, von einigen auch ratifiziert. Zu den wenigen Staaten, die sich bisher nicht zu einem Beitritt entschließen konnten, gehört auch Österreich. Die Ursachen für dieses Zögern sind vielfältig und beruhen teils auf Missverständnissen, teils auf unbegründeten politischen Ängsten.

Für eine Ratifikation spricht zunächst, dass eine zunehmend grenzüberschreitend agierende Medizin auch einen übernationalen rechtlichen Rahmen benötigt, der den faktischen Trend der Internationalisierung auf völkerrechtlicher Ebene begleitet und normativ begrenzt. Die Biomedizinkonvention stellt den ersten Ansatz zu einer solchen Harmonisierung dar, und ihr Erfolg hängt maßgeblich von einer möglichst breiten Teilnahme ab. Ein Staat, der sich einem Beitritt verweigert, entzieht sich außerdem den in der Konvention vorgesehenen internationalen Kontrollmechanismen und beraubt sich der Möglichkeit, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Fragen der Auslegung anzurufen.

Auch das österreichische Recht könnte durch einen Beitritt wichtige Impulse erhalten. Zwar läge die Bedeutung der Konvention nicht in einem revolutionären Zuwachs an neuen Rechten: Über weite Strecken entsprechen die Regelungen der MRB jenen des österreichischen Rechts. Der rechtsstaatliche "Gewinn" wäre eher in den Begleiteffekten eines solchen Beitritts zu sehen:

* Die Ratifikation der MRB wäre zunächst Anlass zur Durchforstung des eigenen Rechtsbestandes sowie zur Beseitigung von Wertungswidersprüchen und Regelungslücken. Da Österreich zur effektiven Umsetzung der Konvention verpflichtet wäre, entstünde ein Anpassungsdruck zur Schaffung präziserer Regelungen auch dort, wo das innerstaatliche Recht beträchtliche Unklarheiten aufweist. So wäre es etwa erforderlich, das im Zusatzprotokoll zur MRB enthaltene Verbot des (reproduktiven) Klonens von Menschen viel deutlicher zu formulieren, als dies im Fortpflanzungsmedizingesetz der Fall ist. Auch die derzeit dafür angedrohte bloße Verwaltungsstrafe von höchstens 500.000 Schilling stellt wohl keine ausreichend abschreckende Sanktion für derartige Praktiken dar.

* In einigen Punkten brächte die MRB neue und strengere rechtliche Schutzbestimmungen als sie derzeit in Österreich bestehen. Es bestünde also ein Anpassungsbedarf. Das betrifft beispielsweise die Organentnahme von lebenden Spendern (die in Art 19 MRB restriktiver geregelt ist als nach den - ungeschriebenen - Grundsätzen des österreichischen Rechts), die Vornahme prädiktiver genetischer Tests (die in Artikel 12 MRB mitunter strengeren Kriterien unterworfen werden als nach den lückenhaften und bestimmte Arten von Genanalysen einschließenden Bestimmungen des österreichischen Gentechnikgesetzes), oder die Verwendung von menschlichen Körpersubstanzen (wofür im österreichischen Recht überhaupt keine generelle, dem Artikel 21 und 22 MRB entsprechende Regelung besteht).

* Sollte - wofür vieles spricht - die Konvention als verfassungsergänzender Staatsvertrag im Verfassungsrang transformiert werden, so würde dies zu einem neuartigen und "medizinspezifischen" Katalog von Grundrechten führen, die in ihrer Genauigkeit und Konkretisierungsdichte über die recht allgemein gehaltenen Garantien des geltenden Verfassungsbestandes hinausgehen.

Keine Nivellierung

Die gegen eine Ratifikation vorgebrachten Argumente können dagegen nicht überzeugen:

* Der Einwand, die Konvention sei lückenhaft und unvollständig, scheint zunächst durchaus berechtigt: Zentrale Fragen wie jene des Schwangerschaftsabbruches, der Sterbehilfe oder der Embryonenforschung werden gar nicht oder nur rudimentär angesprochen. Dies hat mit den Eigenheiten völkerrechtlicher Rechtssetzung zu tun, die immer nur den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen den beteiligten Staaten formulieren kann, wenn sie nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt sein will. Jeder Staat hat in Grenzbereichen andere Vorstellungen darüber, was das "richtige" Schutzniveau ist und wie der Ausgleich unterschiedlicher Interessen gestaltet werden soll.

Man denke bloß an heikle Fragen wie die Forschung an befruchteten Embryonen in vitro oder die Präimplantationsdiagnose, die zwar in Österreich durch Paragraph 9 des Fortpflanzungsmedizingesetzes von 1992 verboten, in vielen europäischen Staaten aber - wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß - zugelassen werden (beispielsweise in Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Schweden und Spanien). Diese Divergenzen sprechen aber nicht dagegen, den Konsens zumindest insoweit herzustellen, als er möglich ist. Die MRB ist kein medizinethisches "Grundgesetz", sondern Ausdruck eines europaweiten Mindestschutzes.

* Eine Befürchtung geht dahin, die Konvention führe zu einer "Nivellierung nach unten", zu einer Herabsetzung bestehender höherer Standards. Dieser Einwand hat eine juristische und eine eher psychologisch-symbolische Seite: Aus juristischer Sicht ist er abwegig: Nach Artikel 27 der Konvention bleibt es den Staaten unbenommen, einen über die Konvention hinausgehenden Schutz zu gewähren. Ein innerstaatlich höheres Schutzniveau wird durch einen Beitritt nicht beeinträchtigt.

Die rechtliche Wirkung der Konvention ist eine "Einbahnstraße", sie zwingt die Staaten zur Rechtsangleichung dort, wo diese das Schutzniveau der Konvention unterschreiten, sie zwingt aber keinen Staat dazu, restriktivere Schutzbestimmungen aufzugeben, nur weil die Konvention im einen oder anderen Punkt weitmaschigere oder gar keine Regeln vorsieht. Dies gilt auch für die umstrittenen Ausnahmeklauseln zugunsten fremdnütziger Forschung an Einwilligungsunfähigen (Artikel 17 Absatz 2) und fremdnützigen Gewebsentnahmen an Geschwistern (Artikel 20 Abssatz 2). Erstens steht es jedem Staat frei, ob er diese Ausnahmen für seinen innerstaatlichen Bereich ausschöpfen möchte. Und zweitens bedürfte es hierfür eines zusätzlichen parlamentarischen Gesetzes. Die Ratifikation der MRB führt für sich genommen nie dazu, dass unzulässige Vorgangsweisen "automatisch" zulässig werden. Die Gesetzesvorbehalte der Konvention sind innerstaatlich nicht unmittelbar anwendbar und können keine Erlaubnis begründen, wo bislang ein Verbot bestand.

* Die zweite Seite dieses Vorwurfes läuft auf ein Argument der "schiefen Ebene" hinaus: Demnach führe die Konvention zwar nicht rechtlich, aber doch politisch zu einem Anpassungsdruck "nach unten". Diesem Einwand ist rational schwer zu begegnen, weil er auf einer ebenso unbeweisbaren wie unwiderlegbaren Befürchtung beruht. Man kann ihm nur erwidern, dass es zwischen einem Beitritt zur MRB und etwa der innerstaatlichen Zulassung fremdnütziger Forschung an Einwilligungsunfähigen weder eine rechtliche noch eine plausible empirische Verbindung gibt. Eine derartige politische Entscheidung rückt nicht näher oder ferner, ob wir die MRB nun ratifizieren oder nicht.

Irrationale Ängste

Mehr noch: Wenn wir - was hier nicht zu erörtern ist - nicht-therapeutische Forschung an Einwilligungsunfähigen unter den engen Kautelen des Artikel 17 Absatz 2 zulassen wollten, so wäre dies in gewissen Grenzen schon jetzt möglich, und diese Grenzen würden durch Artikel 17 MRB eher enger, als sie es nach geltendem Verfassungsrecht oder auch nach den einschlägigen EU-Richtlinien sind.

Die Irrationalität der Ängste vor der MRB wird besonders deutlich, wenn man die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) zum Vergleich heranzieht. Ähnliche Widerstände und Bedenken hätte man vor einem halben Jahrhundert schon gegen die EMRK vorbringen können, die in ihrem Stammdokument noch die Todesstrafe zuließ und Rechte wie das Eigentum oder das Wahlrecht gänzlich aussparte. Niemand hat damals gefordert, Österreich solle aus Sorge vor der Erosion eines höheren nationalen Standards nicht beitreten.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass wir die EMRK nur mit Vorbehalten ratifiziert haben, während wir heute einem richtungweisenden Menschenrechtsdokument die Akzeptanz allein deswegen versagen, weil es nicht in allen Details unseren Idealvorstellungen entspricht.

Der Autor ist Universitätsprofessor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien, stellvertretender Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien und Mitglied der Bioethik-Kommission der österreichischen Bundesregierung.

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