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Vladimir Vertlibs "Lebensgeschichten" wirken nicht sehr fertig.

Vladimir Vertlib wandelt in den drei Geschichten seines Buches "Mein erster Mörder" auf den Spuren von Erich Hackls literarischen Reportagen. Nach den autobiographischen Romanen "Abschiebung" und "Zwischenstationen", in denen Vertlib die Emigrationsgeschichte seiner Familie aufrollt, nach den Fiktionen "Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur" und "Letzter Wunsch" weist der Untertitel seines neuen Bandes "Lebensgeschichten" dezidiert auf eine reale Folie der Geschichten hin. In einem vorangestellten Passus erklärt er, dass aber trotz des realen Hintergrunds "viele der beschriebenen Ereignisse frei erfunden" sind "oder sich in der Realität etwas anders zugetragen" haben.

Nichts erklärt

In der titelgebenden Erzählung trifft der Erzähler auf den ersten Mörder, den er in seinem Leben persönlich kennen lernt. Er ist bei ihm zum Abendessen eingeladen. Der Mann heißt Leo und führt ein unbescholtenes Leben - bis zu dem Tag, an dem er scheinbar aus dem Nichts heraus einen jungen Mann umbringt, der ihn angepöbelt hat. Leo wird zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. "Er habe trotzdem nicht genug bezahlt. Es sei nie genug. Seit er das wisse, habe er keine Schlafprobleme mehr." Und dann erzählt er von seiner Jugend in den 50er Jahren in Wien. Er kommt aus armen und rauen Verhältnissen. Dem begabten Jungen wird der Besuch des Gymnasiums ermöglicht. Es könnte viel aus ihm werden. Aber in der kleinen Wohnung ist Streit an der Tagesordnung. Ein Halbsatz der Tante, in Wut gegen den Vater gerichtet, beunruhigt den 15-Jährigen. Er drangsaliert sie so lange, bis sie ihm das Geheimnis des Vaters entdeckt: Er war zum Volkssturm eingezogen worden und an der Ermordung ungarischer Juden beteiligt. Wie soll der Sohn die Wahrheit verkraften, die der Vater weinend von sich weist. Es ist zu viel für den Jungen. Als die Tante im Sterben liegt, holt er keine Hilfe. Warum? Das wird nicht erklärt. Genauso wenig wie die Frage, inwiefern sein Gewaltausbruch Jahrzehnte später in diesem Ereignis seiner Jugend begründet war.

Die zweite Geschichte, "Ein schöner Bastard", wird dem Erzähler von Renate erzählt, einer gebürtigen Tschechin. Ihr Vater war ein tschechischer Deutscher jüdischer Abstammung. Er entkommt den Nazis, nur um nach dem Krieg als Deutscher angefeindet zu werden. Sein Parfümeriegeschäft wird ihm nie zurückgegeben, schließlich wird er sogar gezwungen, nach Wien zu emigrieren. Tochter und Mutter bleiben weiter dem Terror der Geheimpolizei ausgesetzt. "Es geht immer und überall - auch heute - nach demselben Prinzip: Für die Staatsmacht ist man grundsätzlich immer irgendwie schuldig." Aus der Erzählung Renates scheint jede Emotion getilgt - abgeklärt und urteilslos ist der Ton. Eine Haltung, die alle drei Geschichten bestimmt und die in der letzten, "Nach dem Endsieg", so beschrieben wird: "Robert Hamminger erzählt bereitwillig, fast im Plauderton, von Ereignissen, die mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen, erzählt, als wäre es die Geschichte eines Freundes, den er vor langer Zeit gekannt hat {...}." Robert hat versucht, der Einberufung durch Flucht zu entgehen. Mit seinem jüdischen Freund Karl will er sich nach Palästina durchschlagen, wird aber nach einer abenteuerlichen Odyssee in Triest gefangen genommen. In Wien erwarten ihn Verhöre durch die GESTAPO, dann wird der junge Bursch der Wehrmacht übergeben und versieht den verhassten Kriegsdienst bei der Marine. Nach dem Krieg studiert er Kunst und wird ein bekannter Vertreter des Wiener Phantastischen Realismus. Dem realen Vorbild dieser Figur, dem Maler Roman Haller, hat Vertlib sein Buch gewidmet.

Kein großer Wurf

Es ist ein "rohes" Buch. Trotz der von Vertlib durchgeführten Bearbeitung bleibt der Oral-History-Charakter erhalten. Und es ist kein großer literarischer Wurf, sondern eher Dokument der Suchbewegung seines Autors: Wie nah kann die Vergangenheit überhaupt noch herangeholt werden? Wie viel von der Intimität der Gespräche mit den Zeitzeugen darf preisgegeben werden? Vertlib wirkt unschlüssig. Der Leser ist irritiert. Er wäre den Protagonisten gerne näher gekommen, als es der Autor erlaubt.

Mein erster Mörder

Lebensgeschichten

Von Vladimir Vertlib

Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, Wien 2006. 252 Seiten, geb., e 20,50

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