Wer suchet, der findet: Manchmal auch sich selbst.
Wieder eine Spurensuche, ein Gang in die Vergangenheit. Eine Ich-Erzählerin spürt den letzten Lebensjahren ihrer Großmutter nach. Das wäre an sich nichts Außergewöhnliches - außergewöhnlich sind hier jedoch die Umstände, unter denen die Großmutter der Familie abhanden gekommen und schließlich ins Vergessen gerutscht ist.
1935 hat sie sich quasi selbst eingeliefert. Sie wird aus den psychiatrischen Kliniken auch nicht mehr entlassen, obwohl ihr Mann in vielen Briefen darum ansucht. Bis zu seiner Scheidung.
Die Tochter, Mutter der Ich-Erzählerin, will zunächst von dieser Suche nichts wissen. Möchte sich der Vergangenheit und der Auseinandersetzung mit dem Leben der eigenen Mutter nicht stellen. Doch bei der gemeinsamen Fahrt nach Deutschland mit der drängenden Tochter, jene Orte aufsuchend, an denen die Mutter ihre letzten Jahre verbracht hat, nimmt auch ihre Distanz ab, beginnt sie sich der Mutter wieder zu nähern. Ein bekanntes Sujet: Scheinbar kann immer erst die nächste Generation zur Aufarbeitung anregen.
Gemeingefährlich sei sie, so begründen die Ärzte das Festhalten und Einsperren jener Frau, die sich vom "Umstellformat" bedroht fühlt. Alle Richter und Polizeibeamten seien mit dem Umstellformat verbunden, so Frau S. gemäß den Akten, die die Enkelin nun einsieht. Eine Wahnvorstellung, die so sehr Wahn nicht scheint - in diesen Zeiten. Doch der Verweis auf die Zeit des Nationalsozialismus bleibt in seiner Uneindeutigkeit so stehen, wird nicht überstrapaziert.
Berichte über die Fahrt, Briefverkehr von Vater und zuständigen Amtspersonen, Tonbandaufzeichnungen von Gesprächen mit ihrer Mutter, all das fügt die Ich-Erzählerin zusammen zu ihrem Suchbild.
Die Suche führt freilich nicht zur Aufdeckung eines nationalsozialistischen Euthanasieverbrechens, wie man vielleicht vermuten könnte. Großmutter scheint an einem Herzversagen gestorben zu sein. Jedenfalls findet sich kein anderer Hinweis. Am Ende der Suche wartet eine andere Entdeckung: "Mutter sagte kein Wort, nahm meine Hand und hielt sie fest, um mit der anderen auf das Foto einer Frau zu zeigen, die mir wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sah." Der Gang in die Vergangenheit als Suche nach sich selbst?
Breznik belässt es nicht bei diesem Handlungsstrang. Da gibt es noch Far, jenen Norweger, der der Ich-Erzählerin anlässlich eines Schüleraustausches einst wie ein Vater war und den sie nun nach Jahren wieder besucht. Der Bericht über ihre Spurensuche löst in ihm das Schweigen über seine nationalsozialistische Beteiligung. Ein Mitläufer, ein Außenseiter, gemieden nach dem Krieg, räsoniert, was gewesen wäre, wenn er erkannt hätte, wenn er nicht ... Ohne zu werten hört sich die Ich-Erzählerin seine Geschichte an.
Die Autorin, selbst Ärztin, schöpft hier wohl auch wieder aus ihren Erfahrungen. Nach den Erzählungen "Nachtdienst" und "Figuren" ist der 1961 in Kapfenberg geborenen Schriftstellerin wieder ein kleines, feines literarisches Werk gelungen. Kein spektakuläres Buch, keines, das nach Sensation hascht, weder thematisch noch durch die Sprache. Die vorsichtigen, nüchternen, enthaltsamen, aber neugierigen Versuche zu verstehen haben eine entsprechende literarische Form gefunden.
Das Umstellformat
Erzählung von Melitta Breznik
Luchterhand Verlag, München 2002
137 Seiten, geb., e 15,50
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