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Eine englisch-jüdische Geschichte in Wien: Im Sommer 1938 wurden in der anglikanischen Kirche 2.000 Juden getauft. Was damals - unter den Augen von Gestapo und Secret Service - geschah, liegt heute noch im Dunkeln.

Mit dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland begann für österreichische Juden der Kampf ums nackte Überleben. Selten genug gab es Menschen, die sie dabei unterstützten: Menschen wie den anglikanischen Priester Hugh Grimes von der Christ Church in Wien. Zwei englische Historiker erforschen, was damals geschah.

Wien 1938, Jaurèsgasse

Juli 1938, ein klarer Sommermorgen. Noch werfen die Bäume im vornehmen Botschafterviertel einen angenehm kühlen Schatten. Plötzlich wird die Stille in der Jaurèsgasse im dritten Wiener Gemeindebezirk unterbrochen: Nicht, dass die zehn Männer und Frauen, die um die Ecke biegen, viel zu bereden hätten. Es ist die Art und Weise, wie sie in Richtung der kleinen backsteinroten Kirche eilen, die jetzt in ihrem Blickfeld aufgetaucht ist: Hastig, nervös, wie auf der Flucht. Bevor sie sich noch bemerkbar gemacht haben, geht die Türe der Kirche auf. Der anglikanische Priester Hugh Grimes hat sie bereits erwartet. In der Jaurèsgasse wird es wieder still.

Vier Stunden später - es ist brütend heiß geworden - verlassen die zehn Männer und Frauen die Christ Church wieder. In ihren frisch ausgestellten Taufscheinen sind die drei Buchstaben vermerkt, von denen sie sich Rettung erhoffen: CoE, Church of England. Ein Mann hat sich zu ihnen gesellt: Sigfried Richter, seines Zeichens ehrenamtlich arbeitender Mesner in der anglikanischen Kirche. Er begleitet seine Schützlinge in das Gebäude direkt gegenüber: in die britische Botschaft. Dort arbeitet ein Mann in der Visaabteilung, von dem sich die neugetauften Anglikaner Hilfe erhoffen: Passport-control-officer Captain Thomas Kendrick. Er füllt die Formulare aus für diejenigen, die Österreich so schnell wie möglich verlassen müssen. Er fragt nicht lange nach. Unter der Rubrik Religionszugehörigkeit trägt er einfach die drei Buchstaben ein, die auch im neuen Taufschein stehen: CoE. Das erspart den Männern und Frauen im Papierkrieg mit Behörden sehr viel Ärger und Angst. Angst, die Juden in diesen Zeiten ohnehin schon genug haben.

So - oder so ähnlich - könnte es gewesen sein. Zu komplex und chaotisch sei die Situation um 1938 in Österreich gewesen, um wirklich Gesichertes sagen zu können, gibt Munro Price zu bedenken. Der Spezialist für moderne europäische Geschichte an der Universität Bradford in Nordengland bemüht sich, Licht ins historische Dunkel rund um die Ereignisse in der Christ Church zu bringen. Unterstützt wird er dabei von seinem Landsmann Giles MacDonogh, einem freien Journalisten und Spezialisten für deutsche Geschichte.

2.000 Taufen in drei Monaten

In der anglikanischen Gemeinde Wien gehört die Geschichte von Hugh Grimes, der nach dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland tausende Juden taufte, schon lange zur Gemeindeüberlieferung. Der heutige Gemeindeleiter Reverend Patrick Curran erwartet die Forschungsergebnisse der Historiker daher mit Ungeduld. Er und seine Gemeinde wollen Hugh Grimes mit einer Gedenktafel ein Denkmal setzen. Doch die historische Puzzlearbeit stellt sich als langwieriger und mühsamer heraus als erwartet.

Schwarz auf weiß existiert aber zumindest ein Beweis: Die Taufbücher in der Sakristei der Christ Church. Sie verzeichnen vom 28. Mai bis zum 16. September 1938 an die 2.000 Taufen. Ein rasanter Anstieg im Vergleich zu den Jahren vorher, in denen nur einige wenige Taufen vermeldet wurden. Im Juli 1938 waren es an manchen Tagen bis zu 200 Menschen, die vom jüdischen zum christlichen Glauben konvertierten.

Hugh Grimes verlangte von den Menschen, die ihn um Hilfe baten, nicht viel: Vier Stunden katechetische Unterweisungen und eine Einführung ins Vater Unser mussten genügen. Es ging ums nackte Überleben. "Wievielen Menschen Grimes durch die Ausstellung eines Taufscheins nun tatsächlich das Leben gerettet hat, ist noch unklar", sagt Munro Price. Sicher ist nur, dass den meisten der 2.000 Getauften die Flucht in andere Länder gelang.

In den Taufbüchern finden sich viele prominente Namen wohlhabender jüdischer Familien. Hugh Grimes, studierter Mathematiker und ehemaliger Universitätslehrer, hatte den Kontakt zu Juden immer gepflegt. Für diese wiederum war eine Konversion zur anglikanischen Kirche nicht erst seit dem Anschluss attraktiv. Schon im 19. Jahrhundert stand England für Toleranz und Kunst, Kultur und Ästhetik. Wohlhabende Juden hatten den Bau der Christ Church, die 1877 geweiht wurde, finanziell unterstützt. Angesichts solch traditionell guter Verbindungen war es naheliegend, bei der Church of England und ihrem weltoffenen Priester Zuflucht zu suchen. Zwar wurde Grimes von seinem Bischof nach England zurückbeordert, doch führte sein Nachfolger Reverend Frederick Collard die Massentaufen bis September fort. Obwohl sie längst ein offenes Geheimnis waren, griffen die Behörden seltsamerweise nicht ein. Collard wurde einmal während einer Taufe verhaftet, doch ließ ihn die Gestapo wieder frei.

Geheimdienst-Verwicklungen

Schlimmer erging es dem Mesner Sigfried Richter und Passportcontrol-officer Thomas Kendrick:

14. August 1938. Ein dunkler Wagen hält in der Jaurèsgasse vor der Christ Church. Kurz hört man Türen knallen und das Geschnarr deutscher Befehle. Dann ist wieder alles still. Die Gestapo hat Richter verhaftet. Der unauffällige kleine Mann weiß viel über Kendrick. Zu ihm hat Richter, selbst Jude und britischer Staatsbürger, seine neu getauften Glaubensbrüder und -schwestern gebracht. Dafür hat er von ihnen Geld erhalten. Geld, das die Gestapo bei seiner Verhaftung beschlagnahmt. Die Situation wird für Richter gefährlich. Um seinen Kopf zu retten, lässt er im Verhör Kendrick auffliegen. Er weiß, dass Kendrick - Katholik mit humanitärer Gesinnung - weit mehr ist als der brave Angestellte in der Visaabteilung der britischen Botschaft. Kendrick ist auch für den britischen Geheimdienst tätig. Als Agent hat er sich auf die Schifffahrt spezialisiert. Drei Tage nach Richters Verhör, am 17. August, verhaftet die Gestapo Kendrick - eine enorme Niederlage für den britischen Geheimdienst.

Kendrick ist außerdem Angehöriger eines Ausschusses für die Emigration von Juden nach Palästina und hat damit möglicherweise Kontakt zu SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann. Über dessen Pläne, den Juden möglichst viel Geld abzunehmen und sie dann nach Palästina abzuschieben, ist Kendrick gut informiert. Welche Informationen über England hat er den Deutschen weitergegeben und welche nicht? Die Engländer sind sich unsicher. Jedenfalls wollen sie ihren Agenten unbedingt wiederhaben. Um ihr Gesicht zu wahren, lassen sie sich auf einen Deal ein: Die Deutschen dürfen Richter behalten, die Engländer bekommen Kendrick.

Hier geschilderte Geschichte ergibt sich, wenn man die vorhandenen Informationen wie ein Puzzle zusammensetzt und Fehlendes rekonstruiert; historisch gesehen könnte sich manches anders abgespielt haben. Vor allem die Recherchen über Kendricks Verwicklung in die Angelegenheit gestalten sich schwierig. Trotz Nachfrage über Kendricks genauen Status in der Botschaft und seine Tätigkeit als Geheimdienst-Agent ist von der Presseabteilung der britischen Botschaft bis Redaktionsschluss keine Stellungnahme zu erhalten.

Sicher ist nach Aussagen des Historikers Giles MacDonogh allerdings eines: Kendrick wurde im August 1938 nach England zurückgebracht. Dank seiner exzellenten Deutschkenntnisse fungierte er als Dolmetscher während des Krieges bei den Verhören von HitlerStellvertreter Rudolf Heß, der Großbritannien 1941 zu einem Friedensschluss bewegen wollte. Danach verliert sich Kendricks Spur, wahrscheinlich ging er in Pension.

Richter dagegen blieb in deutscher Gefangenschaft. Er wurde vom Volksgerichtshof in Berlin zu zwölf Jahren Zwangsarbeit und zu einer Strafe von 1.000 Reichsmark verurteilt. Seine Frau und sein Sohn appellierten an den britischen Geheimdienst, ihm zu helfen. Doch vergebens - die Deutschen transportierten Richter von Gefängnis zu Gefängnis. Sein Leben endete schließlich einen Tag nach seiner Ankunft in Auschwitz - angeblich an einer Herzattacke.

So viele Juden wie möglich ...

Hugh Grimes, Sigfried Richter und Thomas Kendrick: ein anglikanischer Priester, ein jüdischer Mesner und ein katholischer Passportcontrol-officer. Keine Helden, sondern Menschen aus Fleisch und Blut, mit Licht und Schattenseiten. Wie auch immer ihre Beziehungen zueinander aussahen - eines bezweifeln die Historiker nicht: Alle drei hatten den unbedingten Willen, so viele Juden wie möglich vor den Nationalsozialisten zu retten. Viele verdanken ihnen ihr Leben.

Hinweis:

Leserinnen und Leser, die den Historikern bei der Erforschung der Details helfen können, mögen sich bitte bei der FurcheRedaktion/Ressort Religion (E-Mail: otto.friedrich@furche.at) melden.

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