Tausend Jahre Fragen nach Gott

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Im Gegensatz zur Ostkirche hat sich der Westen im 2. Jahrtausend auf kulturelle Brüche stark eingelassen: von der Scholastik bis zur Theologie nach Auschwitz.

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Im Gegensatz zur Ostkirche hat sich der Westen im 2. Jahrtausend auf kulturelle Brüche stark eingelassen: von der Scholastik bis zur Theologie nach Auschwitz.

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Die Theologie "erschließt mit den alltäglichen Mitteln der ... Wissenschaften die Botschaft von Gottes ewiger Selbsthingabe bis zum Kreuz der Geschichte in Jesus Christus. Ihre Arbeitsweise kann nie genug nüchtern sein, aber ihr Gegenstand sprengt die Grenzen jeder wissenschaftlichen Nüchternheit: das, was sie bedenkt, sprengt die Grenzen des Denkens. Und deshalb ist eine Theologie, die weiß, was sie tut, von der Angst befreit, nicht scheitern zu dürfen. Sie muss an dem, was sie bearbeitet, notwendig scheitern, sonst redet sie nicht von Gott". So definiert der Paderborner Theologe Peter Eicher seine Wissenschaft.

Auch der Versuch, tausend Jahre Theologie auf einer Seite zu skizzieren, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt - wenn auch nicht so grundsätzlich wie die Theologie als solche.

Das erste Millennium: Inkulturation in die hellenistisch-römische Kultur Eine Darstellung der Theologie des letzten Millenniums ist nicht möglich ohne einen kurzen Hinweis auf die immensen Leistungen des ersten Jahrtausends: die Inkulturation des ganz im Judentum wurzelnden christlichen Glaubens in die hellenistisch-römische Weltkultur; die dialogisch-apologetische Auseinandersetzung mit den griechischen und römischen Philosophien: der Aufweis der Kirchenväter, dass der christliche Glaube mit dem antiken Denken nicht nur Schritt halten kann, sondern diesem sogar überlegen ist; die grundlegenden christologischen und trinitätstheologischen Lehrformeln auf den großen Konzilien.

Während die Theologie der Ostkirchen auch im zweiten Jahrtausend primär darauf ausgerichtet war, das Erbe der Väter und der ersten Konzilien konstant zu bewahren und weiterzugeben, hat sich die westliche Theologie viel stärker auf geistesgeschichtlich-kulturelle Umbrüche eingelassen. Die Abfolge unterschiedlicher theologischer Paradigmata hat sich primär in Westeuropa abgespielt.

Die unterschiedliche Entwicklung im Osten und im Westen ist übrigens sehr anschaulich nachvollziehbar in der bildenden Kunst. Während im Osten die Kunst der Ikonen über die Jahrhunderte fast unverändert bestimmend bleibt, weist die Kunst des Westens seit Giotto eine bewegte Entwicklung auf: Renaissance, Barock, Historismus, Moderne, um nur die wichtigsten Epochen zu nennen.

Von der klösterlichenzur universitären Theologie Nachdem die klösterliche Theologie des Frühmittelalters stark von der Notwendigkeit des Sammelns und Bewahrens der Kirchenvätertradition und weniger von neuen Entwürfen geprägt war, gelingt im Hochmittelalter die Verbindung von Glaube und Denken in umfassenden Lehrsystemen.

Die Universitäten, die aus den städtischen Kathedralschulen entstehen, werden ab dem zwölften Jahrhundert zum wichtigsten Bildungsträger. Die Klöster hatten die Theologie auf den inneren Kreis des Konvents beschränkt, hatten sozusagen eine "weltabgewandte" Bildung gepflegt: Ein Neuling wurde jeweils von einem Alteingesessenen in Gebet und Meditation unterwiesen. An den städtischen Schulen herrscht ein neuer Stil des Unterrichts: Eine Gruppe von Schülern versammelt sich zu den Füßen eines Lehrers, der für alle aus dem Buch vorliest und es kommentiert. Die Schüler müssen zudem, um später ihre Aufgabe als Prediger und Amtsträger erfüllen zu können, diskutieren lernen. Lehrer und Schüler liefern sich zu diesem Zweck Argumentationsgefechte. Die Universitäten sind "Übungs- und Kampfplätze des Wortes". Auf logisches und argumentatives Denken, auf vernünftige Erklärungen anstelle von Behauptungen, wird allergrößter Wert gelegt.

Bei allem Vernunftanspruch weiß das Mittelalter um die bleibende Unbegreiflichkeit Gottes. Anselm von Canterbury, der erste theologische "Rationalist": "Ich versuche nicht, Herr, Deine Tiefe zu durchdringen, weil mein Geist dieser in gar keiner Weise gewachsen ist; aber ein wenig möchte ich Deine Wahrheit verstehen, die mein Herz glaubt und liebt."

Die wirkmächtigste Synthese zwischen Vernunft und Glauben hat Thomas von Aquin hervorgebracht. Glaube und Vernunft haben denselben Urheber, Gott, und können einander nicht widersprechen. Thomas strebt eine umfassende theologische Verbindung von Glaube und Denken an: In seiner "Summe der Theologie" entfaltet er den christlichen Glauben systematisch als fest gefügtes Lehrgebäude.

Der Stil der Darstellung ist "scholastisch" (von schola - Schule, wo die logische Argumentation gepflegt wurde): Alle denkbaren Einwände und Irrtümer werden diskutiert und argumentativ entkräftet, um dann die Fülle der christlichen Glaubenssätze zu entfalten. Die umfassenden theologischen Summen der Scholastik sind Zeugnisse des Universalismus des mittelalterlichen Denkens, das die Wirklichkeit Gottes und der Welt in ihrer Einheit und Ganzheit darstellen will.

Universale undexistenzielle Theologie Eines der wesentlichen Merkmale der neuen Zeit, die mit der Renaissance in Europa anbricht, ist die Anthropozentrik: Verstand sich der mittelalterliche Mensch noch als Glied einer Ganzheit, so rückt zunehmend das Individuum ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Nicht zufällig "erfindet" die Malerei der Renaissance das Einzelporträt.

Die Tendenz zum Individualismus lässt sich auch im Glaubensleben beobachten: in der besorgten Frage nach dem persönlichen Heil. Die mittelalterliche Frömmigkeit war noch geprägt vom Gedanken einer "Arbeitsteilung": Im geordneten Ganzen der mittelalterlichen Gesellschaft lag die Sorge um die Erlösung in den Händen des Klerus und der Klöster. Diese hatten die Aufgabe, stellvertretend für die Lebenden ebenso wie für die Toten zu beten. Die "Früchte" dieses Tuns sollte allen zugute kommen. Ab dem späten Mittelalter wächst das Bewusstsein dafür, dass der/die Einzelne selbst die Verantwortung für seine Gottesbeziehung übernehmen muss.

Diese neue Betonung des Einzelnen wird mitunter als Überforderung empfunden. Zumal das Gottesbild des Spätmittelalters geprägt ist von Zügen eines unberechenbaren Willkürherrschers, der absoluten Gehorsam und Unterwerfung fordert. In dieser Situation erhebt sich die existenzielle Frage Martin Luthers: "Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?"

In intensivem Bibelstudium erfährt er, dass der Einzelne als der Sünder, der er ist, nur aufgrund der Gnade und Barmherzigkeit Gottes vor Gott bestehen kann. Der Einzelne (Sünder) vor (dem gnädigen) Gott: so lautet der Grundansatz der Theologie Luthers. Luther geht es darum, was im Licht der Bibel über den gerechtfertigten Sünder, über den Menschen in seiner Relation zu Gott, gesagt werden muss, nicht um eine - philosophisch reflektierte - Rede über das Wesen des Menschen als solchen im Stil der scholastischen Theologie.

Im Unterschied zur essenziell-universalen Theologie eines Thomas, der es primär darum geht, alle Vorgänge in Schöpfung und Geschichte in das Bild einer Ordnung zu bringen, das der Ordnung der Dinge und Geschehnisse in Gott möglichst nahe kommt, ist die existenzielle Theologie Luthers gewissermaßen ein Nachdenken über die eigene Glaubensexistenz. Gewiss: Luthers existenzielle Theologie ist nie nur existenziell: Es gibt selbstverständlich auch Begriffsbildung, Darstellung, objektive Verstehensbemühungen. Genauso wenig verliert eine essenzielle Theologie durch das neue existenzielle Paradigma ihre Berechtigung: Entscheidend ist, ob sie den existenziellen Bezug zu Bekenntnis und Glaubensvollzug des Volkes Gottes wahrt. Beide Paradigmen haben neben ihren Stärken auch ihre Gefährdungen: So gibt es in der existenziellen Theologie die Gefahr des Subjektivismus ("Wahr ist nur das, was ich als wahr erkenne.") und in der essenziellen Theologie die Gefahr des Objektivismus ("Die objektive Wahrheit gilt - egal ob sie argumentierbar oder nachvollziehbar ist.").

Kontext und Textgegenwärtiger Theologie Wir machen einen großen Sprung ins 20. Jahrhundert: Das anthropozentrische Denken und die säkularen Wissenschaften prägen die westeuropäische Kultur. Nicht die Frage, wie bekomme ich einen gnädigen Gott, sondern die Frage, ob es - angesichts des Leides (Stichwort: Auschwitz) - überhaupt einen Gott gibt, ist heute zentral. Wie soll sich die Theologie gegenüber den heutigen Infragestellungen, oder allgemeiner: gegenüber der gegenwärtigen Kultur verhalten?

Die neu-scholastische Antwort lautet: "strikt defensiv". Der Preis: Theologie und Glaube werden zu traditionalistisch geprägten geistigen Sonderwelten - ohne (Erfahrungs-) Bezug zu heutigen Fragen.

Die Antwort des Zweiten Vatikanums: "Glaube und Theologie muss sich dem Heute öffnen." Es gilt, die überlieferte Theologie in einer offensiv-produktiven Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der europäischen Moderne fortzuschreiben, und so den christlichen Glauben in die radikal veränderte - säkulare - westliche Kultur wirklich zu "inkulturieren".

In den letzten Jahrzehnten ist zudem die Eurozentrik (und Androzentrik, also Männerorientierung) aller bisherigen Theologie verstärkt ins Bewusstsein getreten. Was bedeutet der Kontext gesellschaftlicher Ausbeutung und Unterdrückung für die christliche Rede von Gott? (Theologie der Befreiung) Was bringt die Perspektive der Frauen, die in der bisherigen Tradition kaum zu Wort kamen, in die Theologie ein? (Feministische Theologie) Wurden die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens bislang nicht völlig ignoriert? (Theologie nach Auschwitz) Wie kann eine indische Christologie (im Kontext des Hinduismus), wie eine afrikanische Theologie (im Kontext der afrikanischen Kultur und Religion), und so weiter aussehen?

Vor dem Hintergrund heutiger pluraler Ausfaltungen der Theologie in den verschiedensten kulturellen Kontexten ist die Sorge um die Einheit zweifellos berechtigt: Pluralität ist in dem Maße legitim als die gemeinsame Basis, der "Grundgehalt" der jüdisch-christlichen Offenbarung und Überlieferung, nicht außer Streit steht: die befreiende Selbsthingabe Gottes in Jesus Christus bis ans Kreuz.

Der Autor ist interimistischer Leiter derTheologischen Kurse in Wien.

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