Töten ist niemals barmherzig

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Euthanasie in den Schlagzeilen. Die Niederlande haben die Sterbehilfe legalisiert. Ein Dammbruch im Lebensschutz?

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Euthanasie in den Schlagzeilen. Die Niederlande haben die Sterbehilfe legalisiert. Ein Dammbruch im Lebensschutz?

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Der Dammbruch hat längst stattgefunden. Denn das Töten leidender Menschen hat in Holland schon Tradition. Zunächst toleriert, wurde es immer öfter praktiziert. 1993 beschloss dann das Haager Parlament ein Gesetz, das Euthanasie zwar grundsätzlich verbot, aber straffrei stellte, wenn Ärzte gewisse Spielregeln einhielten. Nun zieht sich der Staat ganz zurück. Eine fundamentale Änderung? Ja und nein.

Nein, weil eine gängige Praxis fortgesetzt wird und die Ärzte schon bisher weitgehend freie Hand hatten. Ja, weil ein europäischer Staat nun Sterbehilfe ausdrücklich akzeptiert. Und das ist folgenschwer. Es gibt den Befürwortern des Tötens Auftrieb, auf diesem Weg des "Fortschritts" voranzuschreiten, was für Belgien zu erwarten ist. Und Hollands "Gesundheits"-Ministerin ruft bereits nach der Selbstmordpille. Gleichzeitig wird die Debatte in den Medien angeheizt. Wieder wird eher nüchtern über ein Thema diskutiert, das eigentlich tabu sein sollte: die Frage, ob man Menschen töten darf oder nicht. Beihilfe zum Selbstmord ist die "Einstiegsdroge in die Euthanasiegesellschaft", wie das Kinsauer Manifest 1991, eine von 200 namhaften deutschen Persönlichkeiten verfasste Erklärung, feststellte.

Von Aristoteles stammt der Satz: "Wer sagt, man dürfe auch die eigene Mutter töten, hat nicht Argumente, sondern Zurechtweisung verdient." Wir aber sind daran gewöhnt, locker und cool über das Lebensrecht zu debattieren: ob man Kinder produzieren und für wissenschaftliche Zwecke missbrauchen darf; ob man ungeborene Kinder im Mutterleib töten darf und behindert geborene Kinder am Leben erhalten soll. Argumente werden hin- und hergerufen, ohne dass dabei ein Lernprozess stattfindet. Denn all das, was heute über die Euthanasie-Frage medial herumgereicht wird, ist in den Zeitungsausgaben der achtziger und neunziger Jahre nachzulesen.

So plädierte ein Entschließungsantrag an das EU-Parlament 1991 für die Legalisierung der Euthanasie in Europa mit dem Hinweis: "Körperliche Schmerzen sind sinnlos und unheilvoll und können die Menschenwürde verletzen." Und: "Das Verlangen, für immer einzuschlafen, bedeutet nicht die Verneinung des Lebens, sondern die Forderung, ein Dasein zu beenden, dem die Krankheit letztlich jede Würde genommen ..." Dem ist entgegenzuhalten: Leiden - so gut es geht, soll man es gering halten - ist nicht sinnlos, sondern Teil jedes Reifungsprozesses. Wer lernen will, muss seine Trägheit überwinden, wer lieben will, seine Selbstsucht, wer leben will, seine leidvollen Krankheiten. Aber wenn keine Hoffnung auf Überleben ist - was dann? Erst wenn die Lage aussichtslos sei, würde man ja Leidenden "zu Hilfe" kommen.

Die Aussichtslosigkeit - ein Zauberwort. Denken jene, die dies als Argument strapazieren, an die vielen ärztlichen Fehldiagnosen, mit denen man im Laufe seines Lebens konfrontiert ist? Warum sollten Ärzte gerade in Extremsituationen treffsichere Urteile fällen? Menschliche Einsicht ist nun einmal begrenzt und daher irrtumsanfällig.

Wie begrenzt ärztliches Können ist, zeigt gerade die Untersuchung der holländischen Erfahrung mit dem Töten: In 18 Prozent der untersuchten Fälle unterstützten Selbstmordes hatten die verabreichten Mittel so schlimme Nebenwirkungen, dass die Ärzte einschreiten mussten, um den Tod rasch herbeizuführen. In sechs Prozent der Fälle erwachten die Patienten aus einem medikamentös bewirkten Koma, das tödlich hätte sein sollen. Keine Rede von "für immer einschlafen". So einfach ist es gar nicht, Menschen ins Jenseits zu befördern.

Darunter leiden ja auch die Pfleger, die ihren Beruf aus Solidarität mit ihren Mitmenschen wählen und dann Mixturen zu verabreichen haben, die den Tod bringen. Viele berichteten von wahren Alpträumen, wenn Patienten einfach nicht sterben, selbst nach der fünften Injektion. Man lese bei Francois Paul-Cavallier, einem Psychotherapeuten und Supervisor von Pflegern, nach.

Nun aber zum Thema freie Entscheidung: Die legalisierte Beihilfe zum Selbstmord bewirkt, dass der chronisch Kranke und Sieche für alle Mühen und Aufwendungen, die er verursacht, verantwortlich wird. Wer weiterlebt, verzichtet ja auf die Ausübung seines "Rechts" auf Selbstmord. Ohne diese Halsstarrigkeit würde er seiner Umgebung ja das Leben erleichtern. Wer wird dem Druck standhalten können - vor allem, wenn ihm seine Situation düster genug vor Augen geführt wird und die Belastung der Betreuer sich deutlich kundtut? Und wie oft wird wohl der Patient gar nicht gefragt werden?

Man sage nicht, das sei üble Schwarzmalerei. In Holland erfolgte laut Erhebung fast jeder zweite Euthanasiefall ohne Einwilligung des Betroffenen (furche 43/1998). Die Erfahrungen mit der Abtreibung zeigen ja auch, wie sich die Dinge entwickeln, sobald aus "Barmherzigkeit" eine Bresche in den Lebensschutz geschlagen wird. Wieviele Frauen werden zur Abtreibung gedrängt von Männern, die nur ja nicht Väter werden wollen und mit dem Verlassen der Schwangeren drohen, oder von Eltern, die die Schande der unehelichen Geburt fürchten! Wo die Barrieren des Lebensschutzes fallen, wird der Missbrauch alltäglich.

All das blenden Befürworter der Euthanasie aus. In Fernsehdebatten und Leitartikeln kann man leicht von perfekten Systemen, die leidfreies Leben garantieren, schwärmen. Nur scheitern diese Visionen in der Praxis am begrenzten Wissen, an den begrenzten Kapazitäten, an der Abgestumpftheit und Bosheit der beteiligten Menschen. Alle bisherigen Erfahrungen mit Systemen, die das menschlich gewirkte Heil verheißen, beweisen das.

Solche Argumente haben die Euthanasie-Befürworter bisher nicht überzeugt, und sie werden es auch in Zukunft kaum tun. Denn in dieser wie in anderen Fragen des Lebensschutzes geht es letztlich um eine Glaubensfrage, um die Frage: Wer ist der Mensch?

Und hier sind die Christen der modernen Gesellschaft eine Antwort schuldig, die nicht nur aus Argumenten bestehen darf. Letztlich werden nur Menschen überzeugen, die ihr eigenes Leben freudig als Geschenk Gottes annehmen, die im Leiden nicht verzagen, sondern reifen und die erfahrbar aus jener Hoffnung leben, die mit der Auferstehung Christi in die Geschichte eingetreten ist: Dass das Leben stärker ist als der Tod.

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