Töten wird alltäglich

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Um ein Sterben in Würde zu ermöglichen, müsse man die Euthanasie legalisieren, wird heute oft gefordert. Die Folgen erkennt man am Beispiel Holland.

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Um ein Sterben in Würde zu ermöglichen, müsse man die Euthanasie legalisieren, wird heute oft gefordert. Die Folgen erkennt man am Beispiel Holland.

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Um jede Verwirrung, was die Terminologie anbelangt, zu vermeiden, sollten wir Euthanasie so definieren, wie es die "World Medical Association" 1987 in Madrid getan hat: Euthanasie, also die Handlung, bewußt das Leben eines Patienten zu beenden, ist unethisch, auch dann wenn dies der Patient selbst oder seine nahen Verwandten verlangen. Dieser Umstand hindert den Arzt nicht daran, dem Wunsch eines Patienten nachzukommen, dem natürlichen Sterbevorgang in der Endphase einer Krankheit seinen Lauf zu lassen. Kurz gesagt: Euthanasie zu praktizieren, heißt, einen Patienten zu töten, entweder durch eine medizinische Handlung oder durch eine vom Arzt verordnete Vernachlässigung der Grundversorgung.

Viele Leute fragen, warum Holland Vorreiter in dieser Frage ist. Tatsächlich ist Holland ein außergewöhnliches Land. Es unterscheidet sich von jedem anderen. "Gott schuf die Welt, aber die Holländer schufen die Niederlande," so lautet ein holländisches Sprichwort. Die Entstehung, vor allem aber der wirtschaftliche und soziale Erfolg dieser besonderen Gesellschaft erzeugte unter den Holländern einen Patriotismus, dessen wesentliches Merkmal ein tief verwurzelter Stolz ist, der geistig viel stärker verankert ist als in anderen europäischen Völkern.

Meiner Meinung nach ist daher der Stolz der Holländer weitaus fundamentaler als der anderer Europäer. Die Mischung von Stolz und Toleranz, die wir in Holland finden, ist meiner Ansicht nach der Katalysator, der die Annahme der Euthanasie beschleunigt hat. Das Selbstbewußtsein des Holländers vermittelt ihm die Illusion, er sei, entweder allein oder mit der Hilfe anderer Holländer fähig, alles zu regulieren. Wer für sich selbst nicht dazu imstande ist, dessen wird sich ein natürlicher Sachwalter annehmen, der die Entscheidung an dessen statt und in dessen Interessen treffen wird ...

In einer Gesellschaft, die bis in die sechziger Jahre tief religiös war und in der heute Religion nur mehr einen äußerst geringen Einfluß hat, da der praktische Atheismus fast die oberste Regel ist, wurde der Mensch - im konkreten Fall der Holländer - zum höchsten Wert. Der Holländer entscheidet als oberste Instanz über Leben und Tod, aber auch über Leben und Tod seiner Kinder und behinderter Menschen, seiner geistesgestörten Eltern und letztlich von jedem, der den Eindruck erweckt, seinem Leben ein Ende setzen zu wollen.

Natürlich ist dieses Verhalten von Menschen nicht auf Holland beschränkt. In diesem Land aber geht die ganze Gesellschaft mit dieser Ansicht konform. Soweit meine Überlegungen, warum die Euthanasie in Holland so erfolgreich ist.

Für den rein weltlich orientierten Humanisten ist das höchste Gut des Menschen die Gesundheit. Der Arzt begibt sich seiner hippokratischen Ausrichtung, an der Seite des Patienten zu stehen, um ihn zu heilen, sein Leid zu lindern, wo er nicht mehr heilen, und ihn zu trösten, wo das Lindern versagt. Heute ist der Arzt zu einem Experten geworden, der über Leben und Tod urteilt, eine Art Hoherpriester der Gesundheit.

Ich brauche diesbezüglich nichts zu erfinden, man muß es nur nachlesen. Schon Ernst Haeckel hat die Macht des Arztes betont, wenn es um den Einfluß auf staatliche Entscheidungen geht. Die beste Beschreibung verdanken wir aber Pierre Simon in seinem Buch "La vie avant toute chose" ("Das Leben hat Vorrang"). Dort stellt er fest, daß der Arzt an erster Stelle der Gesellschaft und nicht dem Individuum dient. Und Edgar Morin (in "Science avec Conscience", "Wissenschaft mit Gewissen", 1982) stellt fest: "Die durch wissenschaftliches Tun geschaffene Macht kommt selbst dem Wissenschaftler abhanden. Dies Macht, die auf wissenschaftlicher Ebene in kleine Stücke zerfällt, wird heute auf politischer und ökonomischer Ebene zusammengefaßt."

Heute ist Euthanasie in Holland immer noch verboten, aber es wird offiziell toleriert, wenn ein Arzt Euthanasie für notwendig erachtet und sich auf einen Fall von zwingender Notwendigkeit beruft. Das ist als Konzept weitaus restriktiver, als es im Einzelfall in Holland angewendet wird.

Der Arzt muß dann imstande sein, in einem schriftlichen Bericht nachzuweisen, daß er die vom Gesundheitsamt festgelegten Regeln eingehalten hat: Die Richtlinien, die sich auf die Erfordernisse sorgsamer Anwendung von Euthanasie beziehen (Auf Holländisch: "Zorgvuldigheidseisen euthanasie").

Auf diese Weise hat der Arzt selbst ein Formular auszufüllen, das beschreibt, wie er seiner gesetzlichen Pflicht nachgekommen ist. Klarerweise wird er sorgsam darauf achten, sich nicht selbst ins Unrecht zu setzen. Der Hauptzeuge, das Opfer, ist ja jedenfalls tot. Man kann sagen, daß diese Art von Kontrolle reiner Unsinn ist. Derjenige, der kontrolliert werden sollte, erfüllt diesen Job selbst.

Und was noch dazukommt: In einigen Fälle, wie in dem von Dr. Chabot in Assen (1994), wies der Arzt öffentlich und unverhohlen darauf hin, daß er die Richtlinien nicht eingehalten hatte. Und dennoch hatte das für ihn keinerlei rechtliche Konsequenzen. Dabei hatte er es unterlassen, einen Kollegen beizuziehen und eine Person getötet, die nicht physisch krank gewesen war, sondern nach dem Tod ihrer beiden Söhne und der Scheidung von ihrem Mann einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte.

Eine Tatsache ist interessant: Die Regierung hat den Generalstaatsanwalt Remmelink beauftragt einen Bericht über die Euthanasie in Holland zu verfassen. "Medizinische Entscheidungen über die Beendigung des Lebens", so der Titel des Berichts.

Die Gesamtzahl der Todesfälle beträgt in Holland bei einer Bevölkerung von etwa 16 Millionen Einwohnern rund 129.000 pro Jahr. Etwa 15 Prozent aller Todesfälle sind in Holland auf Euthanasie zurückzufürhen und neun Prozent auf Euthanasie ohne Einwilligung des Patienten.

Festgehalten sei, daß nur jene 2.300 Personen als Opfer der Euthanasie bezeichnet wurden, die ausdrücklich zu Sterben verlangt hatten. Nicht in die Rubrik Euthanasie wurden all jene eingereiht, denen die Ärzte den Gnadentod gewährten, ohne die Einwilligung der Patienten eingeholt zu haben ... Ein weiteres typisches Beispiel für die Fehlinformation der internationalen Medien in Fragen, die Leben und Tod betreffen.

Ein weiteres Problem, das in Holland auftaucht, ist der Druck, der auf Ärzte ausgeübt wird, das Leben von Patienten zu beenden. Bedingt durch die gesetzlich geforderte Hinzuziehung eines zweiten Arztes, der bereit ist, den Patienten zu töten, wird auch der Druck auf die holländischen Ärzte, die Euthanasie ablehnen, verstärkt, sich an diesem Geschehen zu beteiligen. Das trifft vor allem auf jene Fälle zu, in denen der Patient nach der Tötung verlangt. Eine Reihe von Pro-Euthanasie-Ärzten versuchen die öffentliche Meinung für eine Verpflichtung der Ärzte, sich in solchen Situationen dem Wunsch der Patienten zu fügen oder einen Arzt zu rufen, der diesen Job übernimmt.

Die aktive Tötung von schwer behinderten Neugeborenen sei hier auch erwähnt. Es ist heute einer der Zugänge, dieses dramatische Problem zu lösen. Mittlerweile wurde es zur guten medizinischen Praxis in Holland, Neugeborene zu töten, wenn sie schwer behindert zur Welt kommen und mit einer "schlechten Lebensqualität" zu rechnen haben. In Holland gibt man zwar zu, daß es in dieser Frage keinen Konsens gibt, bringt aber zum Ausdruck, daß es nur eine kleine Minderheit von Kinderärzten gibt, die gegen diese Art von Tötung sind.

Zusammenfassend sei festgehalten, daß wir überall dort, wo einem Angehörigen der menschlichen Rasse das Lebensrecht aberkannt wird, den Boden der Demokratie verlassen und uns in eine neue Ära begeben, in die des Totalitarismus. Die kollektivistischen Systeme wie jene, die von Marx, Lenin oder dem Nationalsozialismus inspiriert waren, könnten nur Vorläufer dessen sein, was uns erwartet, wenn wir nicht vorsichtig sind und weiter abnormen Denkern und Politikern folgen.

Glücklicherweise wird die Gefahr weltweit erkannt und aufgezeigt. Man versucht, die Menschen zu mobilisieren und gegen den programmierten, von Ideologen vorgedachten, von Regierungen verordneten und von Ärzten vollstreckten Tod aufzutreten.

Der Autor ist Leiter der Chirurgischen Abteilung im St. Jozef Algemeen Ziekenhuis (Ostend), Generalsekretär der "World Federation of Doctors who Respect Human Life" und Mitglied der Päpstlichen Akademie für das Leben.

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