7101177-1995_12_12.jpg
Digital In Arbeit

Toleranz und ihre Grenzen

Werbung
Werbung
Werbung

Das lateinische „tolerare” bedeutet tragen, aushalten, erdulden, erträglich machen, hängt mit „tolus” (Last) zusammen und ist mit „tollere” (heben) verwandt. „Toleratio” ist das Ertragenkönnen, „tolerantia” das Ertragen. Toleranz war begriffsgeschichtlich vor allem mit Religion und Politik verbunden. Das zeigt das Toleranzedikt 311 ebenso wie der Augsburger Religionsfriede 1555. Aus ihm entwickelte sich der Toleranzgedanke „als eine allzu späte Frucht der christlichen Lehre von der Würde und Freiheit jedes einzelnen Menschen” (Dirks). Die Aufklärung brachte eine Relativierung der religiösen Überzeugung, wenn auch die Toleranzreskripte Friedrichs II. (1740) und das Toleranzpatent Josephs II. (1781) mehr vom pragmatischen Absolutismus getragen waren.

Toleranz gilt als politische Tugend der Demokratie. Wer diese auf Relativismus aufbaut und den der Demokratie entgegenstehenden Überzeugungen dieselbe Chance einräumt wie der eigenen, steht schon im Begriffe, die Grenzen der Toleranz zu überschreiten. Belativis-mus ä la Bürgermeister Zelinka, der im Wiener Gemeinderat bei Tumulten nach der Glocke griff und rief: „Aber i bitt', meine Herrn, san's

g'scheit, Sie hob'n jo recht und Sie durt'n auch, schadt ja nix”, mag im kleinen, homogenen Kreis praktisch und lustig sein, aber Toleranz in der Demokratie verlangt mehr und anderes.

Der Politikwissenschaftler Hät-tich hat festgestellt, daß sie weder mit subjektiver Indifferenz noch mit objektiver Belativität etwas zu tun hat. Toleranz liege erst dann vor, wenn man von einer „Wahrheitserkenntnis” überzeugt sei, den Mitmenschen im Irrtum glaube, trotzdem die Meinung des anderen und das ihr entsprechende Handeln achte und alle die fremde Überzeugung verletzenden moralischen oder gar physischen Mittel des Widerstrebens unterlasse.

Inhumanität ist zu ächten

Diese Toleranz entsteht aus der Ehrfurcht vor dem Mitmenschen und entspricht seiner Würde. Der Botschaft Christi entspricht noch mehr „die Freude am Anderssein des andern” (Heer). Die schönste Freiheit eines Christenmenschen liegt gerade in dieser Freude am Anderssein des anderen.

Die von der Aufklärung getragene Toleranz beruhte auf der Vorstellung, daß alle Menschen in ihrem Menschsein gleich sind, daß sie Wesen sind, die lernen können (und wollen), ihre Vorurteile überwinden

und unvoreingenommen und unbefangen auf den anderen eingehen und sich mit ihm einlassen. „Reine Toleranz” bedeutet Indifferenz.

Es ist eben um des Menschen willen nicht alles an Meinungen gleich wert und gleich gültig. Inhumanität darf nicht geachtet, sie muß geächtet werden. Toleranz ist also kritisch und differenziert auszuüben. Daß etwa unterprivilegierte Minderheiten „toleranzbedürftiger” sind als privilegierte, ist evident. Daher versteht man die Kritik an „repräsentativer Toleranz”.

Damit sind auch Grenzen der Toleranz gezeigt. Zusammenleben ist nur möglich, wenn alle vom absoluten Wert des Friedens und der Rechte aller und jedes Menschen als Folge ihres Menschseins überzeugt sind. Die Einhaltung von Spielregeln und Fairneß gehören dazu. Grobianismus, Unhöflichkeit und Verbalradikalismus sind ein Zeichen von Intoleranz, ja von Gewalt. Gesellschaftliches Wissen und gesellschaftliches Gewissen machen daher jeden Menschen zum Wächter der Grenzen der Toleranz.

Ohne den Konsens der Menschenrechte, der Spielregeln und der Fairneß ist auch ein Dissens nicht möglich. Ohne diesen minimalen Konsens ist das Streben nach Ausgleich zwischen verschiedenen Mitteln und Zielen und Teilverzicht, also der Kompromiß, nicht möglich. Dul-

dung der Verletzung der Menschenrechte, des Friedens und der Spielregeln ist keine Toleranz. Wer tolerant gegenüber der Verletzung dieser Werte ist, gibt die Grundlagen des Zusammenlebens, besonders in der Demokratie, auf. Daher muß eine Gesellschaft, die auf Menschenrechte Wert legt, sich wehren, wenn sie verletzt werden.

Eine demokratische Gesellschaft ist schon herausgefordert, wenn Meinungen gegen die Menschenrechte geäußert werden, wenn gegen sie politisch agitiert, wenn Menschen verächtlich gemacht werden. Die konkrete Grenze der Toleranz ergibt sich je im gesellschaftlichen Prozeß von Fall zu Fall, wobei die Unterscheidung in der Praxis schwierig ist. Aber die Menschen-

rechte sind eine Leit- und Richtlinie.

Toleranz verlangt eben nicht nur ständige kritische Beobachtung, sondern vor allem auch kritische Selbstbetrachtung, Überprüfung und Revision. Sie verlangt eine Haltung, welche das Zusammenleben im Ganzen sieht. Nur dann ist das Eingehen auf den anderen, die vorurteilslose Auseinandersetzung, die Begegnung, das Aufeinanderzuge-henkönnen, das Miteinanderreden-können, das Einanderzuhörenkön-nen, das wirkliche Gespräch möglich. Jeder ist als Wächter der Toleranz herausgefordert. Er muß aber damit auch Wächter der Menschenrechte und des Friedens sein.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung